Katastrophen-Prävention:Blick auf das Unvorstellbare

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Virtuelle Realität soll Menschen auf Katastrophen wie Erdbeben vorbereiten.

Christopher Schrader

Plötzlich wackelt der Klassenraum, und die Tafel fällt von der Wand. Das Licht flackert. Kurz darauf sind die Pulte umgestürzt, Schränke stehen offen, Eisenstangen ragen in die Gänge und der Boden ist übersät mit Dämmplatten. Durch dieses Chaos sollen die Schüler ihren Weg ins Freie finden.

(Foto: Foto: E-Semble)

Während sie das tun, sitzen sie mit einer dicken Brille auf der Nase und einer Computermaus in der Hand am Tisch. Die Brille projiziert das virtuelle Trümmerfeld auf die Netzhaut; Sensoren registrieren, wann die Schüler den Kopf wenden und passen den Blickwinkel an. Wenn sie sich mit Mauskommandos durch die Flure bewegen, ändert sich die Perspektive.

"Virtuelle Realität" heißt die Technik, mit der Ioannis Tarnanas von der Universität Thessaloniki Schüler darauf vorbereitet hat, wie man sich bei einem Erdbeben verhält. Ganz am Ende treffen sie auf ein Hindernis: Ein Ausgang ist blockiert, die Kinder müssen sich einen anderen Weg suchen. "Das hat sie ziemlich unter Stress gesetzt", sagte der griechische Psychologe am Sonntag auf der Wissenschaftskonferenz Euroscience Open Forum ESOF in München. "Aber es hat ihnen geholfen, als kurz danach ein richtiges Erdbeben kam."

Europäer holen auf

Zunehmend beginnen europäische Forscher Virtuelle Realität (VR) zu benutzen, um Menschen auf Stress-Situationen vorzubereiten und ihnen zu helfen, überschießende Emotionen zu vermeiden. Bisher sind ihre amerikanischen Kollegen führend auf dem Gebiet. Dort wird die Technik bereits seit langem intensiv genutzt, um Veteranen aus dem Vietnam- und dem Irak-Krieg zu behandeln, die an einer Posttraumatischen Belastungsstörung leiden.

Dieses Leiden drängt die Erinnerungen an schreckliche Erlebnisse derart in das normale Leben, dass die Patienten oft beginnen, sich vor Alltagssituationen zu fürchten.

Psychologen um Albert Rizzo von der University of Southern California haben darum einen so genannten Ego-Shooter - ein aus dem subjektiven Blickwinkel eines Soldaten erlebtes Kriegsspiel - zum therapeutischen Werkzeug umfunktioniert. Der Patient sitzt mit der Datenbrille auf dem Sofa und steuert seine Bewegungen mit dem Kontrollmodul einer Spielkonsole.

Der Psychologe daneben setzt ihn dann behutsam immer stärkeren Reizen aus, damit der geschädigte Veteran die traumatische Situation noch einmal erleben und dann besser verarbeiten kann. "Am Anfang schlägt die Granate aus der Panzerfaust dreißig Meter vor ihm ein, am Ende direkt neben ihm", berichtete Tarnanas über Rizzos Arbeit.

Warnung vor Überdosis

"Der Psychologe neben ihm steuert das Szenario in allen Einzelheiten. Er muss die Verantwortung für den Patienten übernehmen, weil die Simulation trotz des Sofas im Rücken so echt wirkt." Das mache die Technik zwar sehr effektiv, aber wie bei jeder therapeutischen Maßnahme könne eine "Überdosis Virtuelle Realität" auch schädlich sein.

Darauf musste der griechische Psychologe auch bei der Übung mit den Schulkindern achten. Viele von ihnen bekamen in der simulierten Umgebung Panikattacken, "einer ist deswegen sogar durch das virtuelle Fenster auf die Straße gesprungen", erzählt Tarnanas. Doch die "Angst vor dem ersten Mal", die es Menschen erschwert, zuvor erhaltene Instruktionen zu befolgen, ließ sich mit dem Training effektiv bremsen.

Als kurz nach dem virtuellen Beben ein echtes Erdbeben die Schule erschütterte, hätten sich 45 Prozent der 120 trainierten Kinder bei der Evakuierung besser verhalten als in der Simulation. Drei Viertel von ihnen schätzten ihre eigenen Fähigkeiten besser ein und hatten weniger das Gefühl, der Situation ausgeliefert zu sein.

Sogar mit geistig-behinderten Schülern hat Tarnanas das System schon erprobt: Kinder mit Down-Syndrom sollten einem virtuellen Begleiter durch die simulierten Trümmer folgen. Als dann das echte Erdbeben kam, zeigten 87 Prozent von ihnen keine Panik.

Schulung für Einsatzkräfte

Dieses Werkzeug nutzen mittlerweile auch professionelle Rettungsdienste, um ihre Mitarbeiter zu schulen und zu betreuen. Martijn Boosman von der niederländischen Firma E-Semble zeigte auf der Münchener Tagung eine neue Software namens Tabletop-VR, mit der zum Beispiel eine Feuerwehrzentrale einen schweren Unfall nachstellen kann.

Mit wenigen Klicks lassen sich auf einer leeren Landstraße Unfallfahrzeuge arrangieren, Brände simulieren, Opfer einfügen und schließlich die Rettungsfahrzeuge und Helfer platzieren. Dieses Szenario können Vorgesetzte und psychologisch geschulte Kollegen nach einem aufwühlenden Einsatz mit den Männern und Frauen von allen Seiten betrachten und analysieren.

Boormann nimmt Tarnanas' Warnung vor der "Überdosis" ernst, relativiert aber die Wirkung seines Produkts: "Bisher nutzen die Feuerwehren Spielzeugfiguren. Auch wenn die virtuelle Realität viel eindrucksvoller ist: Wir werden jemanden, der den Tod eines Kindes gesehen hat, damit nicht in eine Krise stürzen. Er bekommt ein Werkzeug, das ihm dabei hilft, über seine Erlebnisse zu sprechen."

© SZ vom 18.7.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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