Echelon berunruhigt das Europa-Parlament:Die Big-Brother-Hotline

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Ein Untersuchungsausschuss soll nun klären, ob die USA wirklich europäische Wirtschaftsunternehmen ausgespitzelt haben - er hat jedoch kaum Kompetenzen.

Cornelia Bolesch

(SZ vom 6.7.2000) - "Halb als Sieger, halb als Verlierer", so fühlt sich Paul Lannoye in dieser Woche. Der Vorsitzende der Fraktion der europäischen Grünen weiß, dass es ohne ihn und den Einsatz seiner Parteifreunde überhaupt keinen Ausschuss im Europaparlament geben würde, der sich mit dem Abhörsystem "Echelon" befasst. So denkt der Sieger Lannoye - der Verlierer Lannoye aber ist enttäuscht vom Parlament, das sich am Mittwoch mehrheitlich nicht dazu bereit gefunden hat, einen richtigen Untersuchungsausschuss zu "Echelon" einzusetzen, sondern nur einen "nichtständigen Ausschuss". Den hält der 61-jährige belgische Physiker aber für ein Instrument ohne Kompetenzen und ohne Biss. "Viele Abgeordnete haben offenbar Angst vor ihren Regierungen", sagt Lannoye etwas bitter, und man glaubt zunächst, seinen Ohren nicht zu trauen.

Angst im Europaparlament? Befinden wir uns etwa nicht im behaglichen Kulturstädtchen Straßburg, sondern auf dem Set eines Kriminalfilms? Doch das geheimnisvolle Wort "Echelon" hat in den vergangenen Jahren die Fantasie so vieler Menschen beschäftigt, dass Gerüchte und Verdächtigungen inzwischen wie von selbst sprießen.

Inflation der Konjunktive

Vor über zwei Jahren entstand im Europaparlament im Auftrag des Ausschusses für Bürgerrechte zum ersten Mal ein Bericht über "Echelon". Darin wurde es als weltweites Spionagesystem im Dienste der amerikanischen National Security Agency, NSA, vorgestellt, mit dem alle über Satelliten laufenden Telefongespräche, Faxe und E-mails abgefangen und ausgewertet werden könnten. Am "Echelon"-System partizipierten, so der Bericht, neben den USA auch Geheimdienste in Großbritannien, Australien, Neuseeland und Kanada. Besonders eng aber sei die Zusammenarbeit zwischen Großbritannien und den USA. Das Echo auf diese Informationen war zunächst sehr gering. Der damalige EU-Telekommunikations-Kommissar Martin Bangemann sagte, wenn es so etwas wie "Echelon" tatsächlich geben würde, "wäre das ein Skandal".

"Wäre", "würde" - die Inflation der Konjunktive im Zusammenhang mit "Echelon" hielt noch einige Zeit an - bis zu diesem Frühjahr. Da wurde im Europaparlament ein zweiter Bericht zu "Echelon" vorgestellt. Vor immer betroffener wirkenden Abgeordneten beschrieb der britische Journalist Duncan Campbell eine Welt, in der vor allem amerikanische Geheimdienste überall ausländische Unternehmen aushorchten und die so gewonnenen Geschäftsgeheimnisse der heimischen Industrie überreichten, um ihr im internationalen Wettbewerb Vorteile zu verschaffen.

1994 sei auf diese Weise ein geplantes Geschäft über den Verkauf von Flugzeugen, das die europäische Airbusindustrie mit Saudi-Arabien eingefädelt hatte, an den amerikanischen Konkurrenten Boeing gegangen. David Campbells Report war alles andere als wasserdicht. Er konnte keine authentischen Dokumente präsentieren, sondern referierte zum großen Teil aus Zeitungsberichten oder "anderen Quellen" - jedoch mit großer Suggestionskraft.

Trotzdem war Campbell dabei offenbar einer Realität sehr nahe gekommen, die gewisse Instanzen gerne vor der Öffentlichkeit verbergen würden. Nach dem zweiten "Echelon"-Bericht jedenfalls und der darauf folgenden Ankündigung der Europa-Grünen, sie würden im Parlament jetzt Stimmen sammeln für einen Untersuchungsausschuss, hat sich die Debatte über "Echelon" erkennbar verändert. Kaum jemand sagt noch, "Echelon" sei nur ein Gerücht. Stattdessen steht jetzt die Frage im Vordergrund, was mit "Echelon" eigentlich genau ausspioniert wird.

Eine Welle der Beschwichtigungen setzte ein. Der deutsche Innenminister Otto Schily überraschte Ende Mai nach einer Sitzung der Innen- und Justizminister der EU mit dem Vorschlag, die Mitgliedstaaten sollten einander versprechen, sich nicht gegenseitig zu bespitzeln. Das wollte auch die amerikanische Regierung gerne tun. Sie lud die Geheimdienstkontrolleure des deutschen Parlaments überraschend zu einem Besuch der Satellitenanlage in Bad Aibling ein, die Teil des "Echelon"-Systems ist.

Nur russische Satelliten und die Telefonate aus dem Balkan würden hier abgefangen, sagten die Amerikaner. Der frühere CIA-Direktor James Woolsey dagegen entschloss sich zu einer arroganten Flucht nach vorn: "Natürlich spionieren wir eure Unternehmen aus", erklärte er den europäischen Verbündeten in mehreren Zeitungsartikeln. Das sei aber leider auch notwendig, weil deutsche Firmen Bestechungsgelder zahlten, um an Geschäfte zu kommen und damit die internationalen Sitten verderben würden.

Ein wenig Licht in das Dunkel der Geheimdienste sollen jetzt die 36 Mitglieder des "Echelon"-Ausschusses im Europaparlament bringen, der etwa den Status einer Enquete-Kommission im Deutschen Bundestag hat. Eine parteiübergreifende Mehrheit aus über 350 konservativen und sozialistischen Abgeordneten wehrte damit den Antrag einer 200 Köpfe starken Minderheit ab, diese Aufgabe einem investigativen Untersuchungsausschuss zu übertragen. Mit Leisetreterei oder Ängstlichkeit habe das gar nichts zu tun, wehrt sich der konservative Abgeordnete Christian von Boetticher gegen die Vorwürfe der Grünen. "Ich bin der Letzte, der Echelon unter den Teppich kehren will".

Angst vor unsterblicher Blamage

Auch der Sozialdemokrat Gerhard Schmidt, der Berichterstatter des neuen Gremiums sein wird, hält es für eine "absurde Idee, mit einem europäischen Untersuchungsausschuss im Bereich nationaler und amerikanischer Geheimdienste zu operieren". Die europäischen Organe hätten hier keine Kompetenzen. Auch das Recht, Zeugen vorzuladen, laufe ins Leere, "da wird sich kein wichtiger Zeuge zitieren lassen, schon gar nicht aus den USA". Boetticher, Schmidt und andere argumentieren, der jetzt etablierte Ausschuss habe zwar formal weniger Rechte als ein Untersuchungsausschuss, könne dafür das Thema "Echelon" aber inhaltlich breiter und politischer behandeln - so auch die Frage, wie Unternehmen und Privatleute in Europa ihre Kommunikationswege in Zukunft vor unerwünschten Lauschern schützen können.

Wenn die Mehrheit des Europaparlaments Angst hat, dann nur erkennbar vor der Aussicht, sich mit einem formal mächtigen Untersuchungsausschuss auf einem Gelände voller Fallstricke und politischer Gummiwände "unsterblich zu blamieren", sagt Schmidt. Der Abgeordnete von Boetticher hat sogar Mitleid mit der französischen Justiz: Vor ein paar Tagen wurde nämlich bekannt, dass die Pariser Staatsanwaltschaft bereits Ermittlungen in Sachen "Echelon" gestartet hat. Von Boetticher fragt nur: "Was wollen die in England erreichen? Die werden vor verschlossenen Türen stehen." Befreit vom Zwang, Schuldige zu suchen, habe der jetzt beschlossene Ausschuss im Europaparlament dagegen die Chance, vernünftige Sacharbeit zu leisten.

Paul Lannoye hat trotz seiner Kritik nicht gegen den Ausschuss gestimmt. Er hat sich, wie die anderen Grünen, nur enthalten. "Er ist besser als nichts", sagt Lannoye. Auf einen Sitz in diesem Gremium will er allerdings verzichten: "Ich will meine Kritikfähigkeit behalten."

Um an geheime Wirtschaftsinformationen zu kommen, sollen die Briten den USA beim Spionieren behilflich gewesen sein.

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