Diskussion über Wissen 2.0:"Ewiges Gedächtnis für Unsinn"

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Grünen-Fraktionschef Kuhn und Wikipedia-Boss Jansson diskutierten am Wochenende mit Journalisten über den Wert von Wissen und Information im Web 2.0 - mit überraschenden Erkenntnissen.

Frederic Huwendiek

Wäre Hubertus Brockhaus doch noch gekommen, hätte er es sicher nicht bereut. Wegen eines kurzfristigen Termins hatte das Aufsichtsratsmitglied des Brockhaus-Verlags die Abschlussdiskussion des 20. Heidelberger Symposiums zum Thema "Wissen" nicht wahrnehmen können. Damit waren ihm flammende Plädoyers für klassische Bildung und diskursive Wissens-Aneignung entgangen - und kollektives Kopfschütteln über Mitmach-Web, Wikipedia und digitale Dummheiten.

Eigentlich hatte die Teilnehmerliste anderes erwarten lassen: Neben dem Vorsitzenden des Wikipedia-Trägervereins Wikimedia, Kurt Jansson, kamen Grünen-Fraktionschef Fritz Kuhn und Stern-Journalist Hans-Ulrich Jörges, dessen Blatt sich zuletzt mit einer positiven Wikipedia-Titelgeschichte hervorgetan hatte. Moderiert wurde die Runde in der Alten Aula der Universität Heidelberg von sueddeutsche.de-Vize Bernd Graff.

Gleich zu Beginn beschwerte sich der Grüne Kuhn über die "Belanglosigkeiten", die sich in Wikipedia fänden und sein Wissen "keinesfalls" steigern könnten. "Nennen Sie mich ruhig wertkonservativ, aber Wissen kann man nicht downloaden", sagte der studierte Linguist. "Es muss im reflexiven Diskurs in Bildungseinrichtungen erworben werden." Und auch Stern-Journalist Jörges, laut Wikipedia ehemaliger Straßenkämpfer, redete sich ob des Mitmach-Webs in Rage: "Dieses Internet ist voll mit Bösartigkeiten, Verzerrungen und Rufmorden."

Es sei "ein ewiges Gedächtnis für Unsinn", auch wenn er insgesamt Zutrauen zur Wikipedia habe. Besonders journalistische Online-Dienste müssten sich in den Nutzerkommentaren täglich durch Unmengen von "Dummheiten, Hass und Antisemitismus" graben. In der heutigen Wissensgesellschaft, so seine Forderung, müsse man die Zeit, die man durch das Internet gewänne, in den verantwortungsvollen Umgang mit den Informationen stecken. Eine Vorschlag, dem sich auch Fritz Kuhn anschließen konnte. "Mit der Info-Flut ist das so wie wenn man viel Essen kauft und dann nicht weiß, wie man's kocht", sagte der Spitzen-Grüne.

Das Gespann Kuhn-Jörges klagte sein Leid aus väterlicher Perspektive. Seine zwei Söhne, so Fritz Kuhn, würden ihre Referate in erster Linie aus Wikipedia-Informationen basteln. "Sie stecken dann die meiste Zeit dahinein, die Texte so zu verändern, dass die Lehrer das nicht merken." Ähnliches beobachtet auch Jörges bei seinen Töchtern - und fürchtet Schlimmes. "Ich möchte hier nicht apokalyptisch klingen, aber Menschen, die immer nur die Meinungen von anderen übernehmen, entwickeln kein eigenes Profil, keinen Mut, keine Kreativität."

Unkommentierter Däniken

Und so wäre diese Diskussion über die Wissensgesellschaft 2.0 beinahe zu einer Fundamentalkritik arrivierter Herren an Jugend, Bildungssystem und Gesellschaft geraten, ergo: Früher war alles besser. Dass früher alles anders, aber nicht unbedingt besser war, versuchte dann doch noch Kurt Jansson zu erklären. "In der Buchhandlung steht Däniken auch unkommentiert neben einem Buch von Weizsäcker", sagte der Wikimedia-Vorsitzende. Und auch geschummelt hätten Studenten und Schüler schon immer. "Worin liegt der Unterschied, wenn ich vor einer Klausur anstatt in Wikipedia die Zusammenfassung in Kindlers Literaturlexikon lese?"

Auf die Sorge Hans-Ulrich Jörges, dass das über Jahrhunderte weitergegeben Erfahrungswissen durch das Internet verloren ginge, reagierte Jansson mit einem Verweis auf die Blogosphäre: Zahlreiche Weblogs könnten ihm intime Einblicke in das Leben von Polizisten und Bestattungsunternehmern geben. Dass das Internet mitunter voll von Krawall, Pöbeleien und übler Nachrede ist musste allerdings auch "der einzige Optimist hier auf dem Podium" (Jansson über Jansson) zugeben. "Schon zu Usenet-Zeiten haben sich einige einen Spaß daraus gemacht, in Katzen-Foren Beiträge über Katzensuppe zu veröffentlichen".

Schließlich fand sich auch biografisch Einendes unter den Diskutanten. Als Kurt Jansson erzählte, vor Jahren von einem RAF-Ableger wegen Volksverhetzung angezeigt worden zu sein, freute sich Stern-Schreiber Jörges beizupflichten: "Ich auch!"

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