Debatten im Netz:Hart aber fair

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Moderner Pranger - Cybermobbing

Gerade bei kontroversen Themen wird die Kommentarfunktion unter Artikeln häufig für Beleidigungen und Beschimpfungen genutzt.

(Foto: dpa)

Kommentare im Netz brauchen Regeln, das ist gerade angesichts der aktuellen politischen Debatten zu spüren. Ein Plädoyer für eine bessere öffentliche Streitkultur.

Von Dirk von Gehlen

Es ist ein Abgrund, in den deutsche Medien im Sommer 2014 blicken, wenn sie auf ihre Leserkommentare schauen: antisemitische Äußerungen in öffentlich-rechtlichen Call-in-Sendungen, rassistische Reaktionen auf der Facebook-Seite der Bild-Zeitung nach deren "Nie wieder Judenhass"-Aufruf und üble Beschimpfungen als Reaktion auf den Putin-Titel vom Spiegel. Angetrieben durch die Meinungsgroßlagen Gaza-Israel und Russland-Ukraine wird die Beteiligung der Leser für Redaktionen zu einem Problem. Die Wirrheit der Vielen zeigt sich in rassistischen, antisemitischen oder schlicht geschmacklosen Wortmeldungen vor allem im Netz. Redaktionen reagieren, in dem sie bestimmte Themen für die Debatte sperren, Klarnamen verlangen, ihre ganze Website nur für zahlende Leser öffnen oder selber anklagende Texte schreiben.

Die abgründigen Aussetzer der Online-Kommentatoren der vergangenen Tage und Wochen überlagern die in der Mehrzahl klugen und interessierten Beiträge der zu Nutzern gewordenen Bürger. Und sie bringen das Thema Leserbeteiligung auf die Tagesordnung, dessen Behandlung jahrelang medial für minderwertig befunden wurde. Sogar aus vornehmen Redaktionen war noch bis vor Kurzem der Begriff "Schleppscheiße" für die Nutzerbeiträge zu hören, die man unter journalistischen Texten im Web lesen kann.

Die Konflikte schaukeln sich auf beiden Seiten hoch

Wer einige der genannten Wortmeldungen verfolgt hat, kann nachvollziehen, aus welcher Geisteshaltung dieser Begriff stammt. Man ahnt aber, dass genau diese Haltung in Redaktionen und bei klassischen Autoritäten Teil des Problems und vermutlich nicht der Lösung ist. Bei den Kommentaren unter Artikeln auf Webseiten von Zeitungen handelt es sich noch zu oft um ein umgekehrtes Henne-Ei-Problem: Nutzer fühlen sich ungehört und unbeobachtet - auch deshalb werden manche von ihnen immer ausfälliger. Redaktionen empfinden umgekehrt Ärger, haben wenig Interesse, sich einzumischen - und schauen weg. Man muss kein Internetexperte sein, um zu erkennen: Diese Spirale dreht sich nicht zum Besseren.

Dabei gibt es auf beiden Seiten Kräfte, die sich gegen die Spirale stemmen. Es gibt in der Mehrzahl kluge Leser, die journalistische Texte mit ihren Anmerkungen bereichern und die Dialog-Möglichkeiten des Netzes tatsächlich zu einer "geglückten Kommunikation" (Habermas) machen wollen. Und es gibt zahlreiche (Chef-)Redakteure in diesem Land, die auch wütenden Leserbriefschreibern antworten - nur leider noch zu selten öffentlich im Rahmen der Netzdiskussion. Gleich in mehreren Redaktionen erzählt man sich die Geschichte eines pensionierten Chefs, der einem besonders unflätigen Leser sehr sachlich antwortete - und das Abo kündigte: "Ihr Verhalten ist unserer Zeitung nicht würdig."

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