Das Internet (1):Das Hirn-Meer

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Netz-Visionäre träumten von einem globalen Paralleluniversum. Wie sieht die Realität aus?

Bernd Graff

(SZ vom 31.8.2002) - In Stanislaw Lems Zukunfts-Roman "Solaris" spielt ein Ozean die Hauptrolle. Ein merkwürdiger Ozean ist das. Er scheint intelligent zu sein, aber erweist sich als unkommunikativ, ja autistisch. Die Menschheit rätselt. Mal wird das Meer für einen "Ozean-Jogi", einen Weisen des Kosmos, gehalten, mal für einen "Ozean-Schwachsinnigen". Denn das Meer spiegelt Information, allerdings wahl- und planlos. "Dies ließ die Wissenschaftler zu der Überzeugung neigen", so Lem, "ein denkendes Monstrum vor sich zu haben, etwas wie ein millionenfach auseinander gewuchertes, den ganzen Planeten umfangendes Hirn-Meer, das die Zeit hinbringt mit gespenstischen Betrachtungen über das Wesen des Kosmos; all das aber, was unsere Apparate herausgreifen, das sind kleine, zufällig aufgeschnappte Bruchstücke dieses ewig in den Tiefen abrollenden, jegliche Möglichkeit unseres Begreifens überschreitenden gigantischen Monologs." Man sollte sich das Bild einprägen. Denn Lem hat nicht das Meer eines fernen Planeten beschrieben, sondern die Zukunft des Internet.

Es begann allerdings mit einem Debakel. Glaubt man der Gründungs-Fama des Netzes, dann scheiterte am 29. Oktober 1969 der Student Charley Kline von der Los Angeles Universität UCLA schon daran, die erste direkte Verbindung zu einem Rechner im Stanford Research Institute (S.R.I.) aufzunehmen. Schon als Kline sich bei dem etwa 480 Kilometer entfernten Computer anmelden wollte, brach das Ur-Netz zusammen: Der Buchstabe "g" der Wortes "login" ließ den Arbeitsspeicher überlaufen, der die Verbindung nach nur zwei Zeichen abrupt beendete. Kein guter Anfang: Sehr bald nach dem Start des sowjetischen Sputnik-Satelliten 1957 gründeten die USA in ihrem Verteidigungsministerium eine spezielle Forschungs- und Entwicklungs-Abteilung: die "Advanced Research Projects Agency" - ARPA, später, mit dem Zusatz "Defense" auch DARPA abgekürzt. ARPA versammelte die besten Wissenschaftler des Landes, die sich um Fortschritte bei der Raumfahrt und Nuklear-Tests mühen sollten. Ein Nebenprodukt war ab 1962 die Entwicklung eines dezentrierten Informationssystems, das es gestattete, die ARPA-Forschungsabteilungen über Computer-Netzwerke miteinander kommunizieren zu lassen. John Licklider wurde vom MIT damit beauftragt, sein "galaktisches Netzwerk", so hatte Licklider dieses avisierte Wide Area Network (WAN) kunstvoll beschrieben, umzusetzen. Die Forschungsarbeiten an diesem "Internetting Project" wurden 1974 mit der Vorstellung der heute noch verwandten Protokoll-Suite "TCP/IP" abgeschlossen: Dem Transmission Control Protocol (TCP) und Internet Protocol (IP). Diese Protokolle sind das Esperanto der Rechnerwelt - eine Universalsprache, die von allen Betriebssystemen verstanden wird. Sie gilt bis heute.

Das Internet gilt als unzerstörbar. Darum liebten es die Militärs. Es ermöglicht schnellen Austausch. Darum liebten es die Wissenschaftler. Es gilt als unkontrollierbar. Darum liebten es die Netz-Visionäre, die von einem grenzenlosen, demokratischen Paralleluniversum schwärmten. Noch die junge Mutter am Ufer des Kongo, so die Idee, holt über das Netz Pflegetipps für ihr Baby ein. Allein, den Zutritt zu dieser schönen, neuen Digitalwelt reglementiert immer noch die Hardware. Wo kein Computer ist, ist auch kein Netz. Während in den USA 59 und in Deutschland 36 Prozent der Menschen Netzzugang haben, sind es in China nur 3, in Indien nur 0,67 und im Kongo nur 0,02 Prozent. Reiche Nationen und Entwicklungsländer trennt der digital divide. Insofern ist und bleibt das Internet ein Upper-Class-Medium, eines, das Kontinente verbinden mag, aber Lichtjahre von der Dritten Welt entfernt ist.

In der ersten Welt aber hat das Netz schon eine Geschichte. Sie handelt vom Aufstieg einiger Seifenblasen ins Virtuelle und deren Zerplatzen an spitzen Punkten: "Dots" werden diese genannt, meist vor "Coms" geschoben. "Dotcoms" also kamen nach noch später als die Visionäre und wollten aus dem Netz eine gigantische Litfasssäule machen. Sie erkannten darin eine "Daten-Autobahn". Begriffe waren das, von aufgeregten New-Economisten ausgegeben, denen der Transfer der wirklichen Welt ins Virtuelle gleich doppelt vorschwebte: Erstens in wirtschaftlicher Hinsicht, als Ablösung materieller Güter durch reine Information in einer vorschnell ausgerufenen Post- Produktions-Ära. Zweitens als Umschrift dieser Information in den digitalen Zahlencode, als Umwidmung also von Bild, Musik, Film und Text in so genannten "Content".

Was immer sich digitalisieren lässt, so die Idee, und sei es die Information, reale Waren von weither zu bestellen, sollte sich über diesen Highway geradlinig auf Spur bringen lassen. Und doch fuhr in diesem Straßen-Bild stets ein Irrtum mit. Jener nämlich, dass die georderte Information stets zielgerichtet von einem Ausgangsrechner A, einem Host oder auch Server, an beliebige Adressaten-Rechner, sogenannte Clients, gelangen würde. Das aber erwies sich sowohl als eine Fehlinterpretation der technischen Gegebenheiten des Internet wie auch als merkantiler Trugschluss. Nur wenn man die Netzstruktur ignoriert, scheint es als beamten einzelne Solitär-Rechner sternförmig Datenstrahlen in die Netzwelt.

Bedenkt man aber, dass im Januar 2002 weltweit über 147 Millionen Content-Server und dazu 581 Millionen User-Computer rund um die Uhr Informationen durchs Netz schickten, merkt man, dass es mit der Exklusivität von Information im Netz nicht weit her ist: Nicht erkannt zu haben, dass das Massenmedium Netz mit massenhaftem Content korrespondiert, dass etwa MP3-Musikfiles nie exklusiv nur bei Napster erhältlich sind, sondern auf allen Rechnern, die sich zu Musiktauschbörsen zusammenschließen, ist Beleg für die totale Fehleinschätzung der Möglichkeiten des Netzes. Content geht im Weißen Rauschen der Daten schlichtweg unter. Darum sollte man den Informationsbegriff für das Netz nivellieren: Alles ist Information, überall ist Information, das Netz selber ist die Information. Alles da. Doch nichts, was es nicht auch anderswo gäbe. In technischer wie wirtschaftlicher Hinsicht sind Internet, Information und Inflation Synonyme. Daran wird auch das vom www-Gründer Tim Berners-Lee prophezeite "Semantic Web" nichts ändern, in dem Maschinen Informationen gezielt suchen sollen. Das Semantic Web reduziert nur die Redundanz auf der Nutzerseite. Das Internet ist kein Highway sondern ein aufgewühltes Datenmeer.

Kommunizierender Kühlschrank

Wenn man eine Prognose für dieses Lemsche Gewoge wagen will, dann die, dass es im besten Sinne vergessen werden wird. Es gibt ja nicht allzu viele Alternativen. Entweder werden die Informationsfluten eines Tages Lems paranoiden Alptraum von einem "den ganzen Planeten umfangenden Hirn-Meer" nähren - oder aber man wird sich jener Apparate bedienen, die immer nur Bruchstücke dieses, digitalen "gigantischen Monologs" herausfischen - den Rest darf man ignorieren: Gemeint ist das Hochgeschwindigkeits-Universalnetz, in das sich Autos und Haushaltsgeräte als personalisierte Kommunikationsmaschinen autonom einklinken werden - ohne den Besitzer mit Lade- und Manövriervorgängen zu belästigen. Wir werden über Fernseher, Navigationssysteme und beim Einkauf ständig im Netz sein, noch unsere Fensterjalousien schließen sich bei Unwetter automatisch, und operiert werden wir ohnehin von internetgelenkten Robotern - aber wir werden all das nicht mehr merken müssen. "Demnächst", so hat der amerikanische Zukunftsforscher Michio Kaku jüngst geschrieben, "gehen Sie einfach zur Wand in Ihrer Wohnung und sagen, Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist verfügbar heute Abend in diesem Land? Und der Spiegel wird intelligent sein. Und er wird all die anderen, die ebenfalls alleine sind und sich betrinken, einblenden." Spätestens dann aber, wenn wir mit Wänden, Spiegeln, Sonnenbrillen reden, werden wir wissen, dass auch Lems hyper-intelligenter Solaris-Ozean nur ein Idiot gewesen sein kann.

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