Computerspiele:Spielend betritt der Mensch den magischen Zirkel

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Fragen von heiligem Ernst: Erst gab es die Computerspiele, nun bildet sich eine Wissenschaft von den Computerspielen heraus. Aber was weiß sie?

Jean-Michel Berg

In den vergangenen Jahren haben sich Computerspiele in so unterschiedliche Richtungen entwickelt, dass sie neue gesellschaftliche Schichten durchdringen konnten. Spätestens mit den "Casual Games", leicht zugänglichen Gelegenheitsspielen, wurden sie überall gewöhnlich. Das Durchschnittsalter der Spieler steigt stetig, Frauen stellen bei manchen Spielen die Mehrzahl der Spieler. Fehlt nur noch, dass die Bundesregierung einen Preis auslobt? Auch soweit ist es schon: In diesem Jahr wird erstmals der "Deutsche Computerspielpreis" verliehen.

Inzwischen Forschungsgegenstand: Computerspiele (Foto: Foto: ddp)

Computerspiele, sagen manche Medienwissenschaftler, seien die Unterhaltungsform des 21. Jahrhunderts. Sie würden bald den Film als Leitmedium hinter sich lassen. Doch was ist es eigentlich, das da auf uns zukommt oder was schon unter uns ist? "We are always living ahead of our thinking", meinte der Medienwissenschaftler Marshall McLuhan.

Seit einigen Jahren bildet sich nun im Schatten der Medien- und Kulturwissenschaften eine Wissenschaft der Computerspiele heraus, die "Game Studies". Allmählich wird sie zur eigenen Disziplin. Auch in Deutschland entstehen zunehmend Forschungsstellen und Lehrstühle, allerdings sind sie noch in den Fakultäten angrenzender Wissenschaften angesiedelt.

Spezielle Studiengänge gibt es bislang vor allem in skandinavischen Ländern, in Amerika oder im deutschsprachigen Raum an der FH Zürich, wo Studenten Seminare besuchen können wie die "Ideengeschichte der Spiele - von Realutopien bis zum Konzept des Second Life" - mit Seminaranweisungen wie: "Keine Computer = Sitzen im Kreis." An vergangenen Wochenende fand schließlich am neu gegründeten Forschungsnetzwerk für Game Studies in Potsdam (Digarec) eine internationale Konferenz zur Philosophie des Computerspiels statt.

Orthopädie ist nicht genug

Zwar ist die Debatte um das Aggressionspotential von Spielen nicht beendet. Aber das Spielen am Computer ist eine Kultur geworden, die nach Reflexion - und nach Bestätigung - strebt, und die Spiele ein Medium, das nicht länger hinter Film, Musik oder Literatur zurückstehen soll. Die Wirkungsdebatte reicht nicht aus, ein solches Phänomen zu erfassen, sowenig wie es ausreichen würde, wenn für den Ballsport allein Orthopäden zuständig wären, weil dort gelegentlich ein Knie verdreht wird.

Und so geschieht allmählich, was am Anfang einer jeden akademischen Disziplin steht: Es bildet sich ein Kanon verbindlicher Texte heraus. Man verschafft sich Klarheit über die Techniken der eigenen Arbeit und schafft einen Jargon. Dabei macht sich bemerkbar, das ausgerechnet das Spiel, eine elementare Kulturform, ausgesprochen "undertheorized" ist, wie der Game-Theoretiker Markku Eskelinen sagt. Bis auf das Standardwerk "Homo Ludens" von Johan Huizinga aus dem Jahr 1938 gab es lange wenig, woran man ansetzen konnte. Anfangs muss diese Lehre angenehm gewesen sein: "Almost anything goes", befindet Eskelinen. Aber noch heute expandiert das Feld in alle Richtungen, wie es Professor Ulrich Götz von der FH Zürich mit aller Vorsicht sagt.

Im frühen Stimmen- und Meinungsgewirr lassen sich dennoch einige Motive erkennen, die sich durchgesetzt haben. Einige Jahre lang hatte man Computerspiele für Erzählungen gehalten, für eine Art von interaktive Filmen, in denen der Spieler selbst zum Helden einer Geschichte wird. Aber nicht alle Spiele sind in eine Rahmenhandlung eingebettet, und bei der einseitigen Betrachtung solcher Strukturen wurde nicht wahrgenommen, was das Spiel eigentlich ausmacht.

Denn auch wenn sich ein Spiel nachträglich erzählen lässt, beschreibt die Erzählung nicht das Bewusstsein des Spielenden. So wie auch jedes Fußballspiel seine eigene Geschichte schreibt und darum doch keine Erzählung ist. Während der Zuschauer eines Films eine fertige Dramaturgie konsumiert, hält der Spieler die Dramaturgie des Spiels in den eigenen Händen. Spielen ist wesentlich Interaktion.

Darum versuchte eine Schule von "Ludologen" um Gonzalo Frasca herauszuarbeiten, was das Computerspiel von allem anderen unterscheidet: die Regeln des Spiels, der Spielzweck und insbesondere das eigentümliche Verhalten des Spielers im Spiel. Wenn wir spielen, meinte Huizinga, hören die Regeln der Wirklichkeit auf zu gelten. Was wir im Spiel tun, hat keine Bedeutung mehr, sobald das Spiel aufhört. Weil wir aber gleichwohl mit heiligem Ernst spielen, kann man davon sprechen, dass wir spielend einen "magischen Zirkel" betreten. Für das Computerspiel scheint dies in besonderem, von allen anderen Spielen unterschiedenem Maße zu gelten.

Viele neue Spiele kommen indessen ohne Story aus. Es ist schon umstritten, ob der Ego-Shooter eine Handlung besitze oder nicht vielmehr ein bloßes Geschicklichkeitsspiel sei. Oft fehlt es darüber hinaus an Identifikationsfiguren, und auch eine Aufgabe ist nicht überall zu bestreiten. Bisweilen zerfließt die Grenze zum Beherrschen eines Instruments, das Spielen wird zu einer bloßen Bewegung innerhalb von festen Mustern, etwas, das sich nicht einmal mehr erzählen lässt.

Ende der sechziger Jahre unterschied der französische Soziologe Roger Caillois zwischen dem strengen, regelgeleiteten und zielorientierten Spiel, das er Ludus nannte, und der Paidia, dem freien, anarchischem Spiel der Phantasie. Bei "Elektroplankton" etwa, einem im Jahr 2005 veröffentlichten Musikspiel, erzeugt man durch Berühren der Oberfläche Bilder und Töne, ohne dass man dadurch Punkte erzielt oder die Komposition speichern könnte. Bei dem Rennspiel "Audiosurf" hingegen erschafft man sich eine Spielwelt je nach dem Soundtrack, den der Spieler als Mp3-File einspeist; hier steht das akustisch-visuelle Erlebnis im Vordergrund.

Anders als die narrativen Medien, erläutert einer Gründungsväter der Game Studies Espen Aarseth, handelt das Computerspiel weniger vom anderen als vom Selbst; es bildet Fähigkeiten aus, dient also der Selbstbeherrschung. Doch welchen Lerneffekt das für die Wirklichkeit haben kann, gehört im Moment wohl zu den umstrittensten Fragen auf dem Feld. Nach Huizinga wird alles, was im Spiel passiert, bedeutungslos, sobald das Spiel aufhört.

Doch diese Grenze scheint es bei Computerspielen nur sehr bedingt zu geben. Neuerdings untersucht man daher die Verbindungen, die vom Spiel zurück in die Wirklichkeit führen, die emotionalen und ethischen Bindungskräfte. Niklas Schrape zum Beispiel fragte in seinem Beitrag zur Berliner Konferenz nach dem positiven ethischen Effekt, den politische Spiele wie "Global Conflict: Palestine" oder "Peacemaker" auf den Spieler haben. Schon seit einiger Zeit bedienen sich die sogenannten "Serious Games" des bekannten Umstands, dass man spielend am leichtesten lernt.

Solche Lernspiele kommen schon jetzt in Rehabilitationszentren oder in der Managerschulung zum Einsatz. Aber auch in der Schule werden sie bald Bestandteil des Unterrichts sein, glaubt Scot Osterweil, der am Massachusetts Institute of Technology (MIT) solche Lernspiele für den Schulunterricht konzipiert.

Kritik der Weltbeherrschungspiele

Sogar eine kritische Tradition ist schon in den "Game Studies" entstanden. Sie untersucht etwa, inwiefern der Spieleklassiker "Die Sims" einen konsumistischen Lebensstil einübt, indem die Beliebtheit der eigenen Spielefigur von deren Besitz abhängt. Die politische Spielekritik fragt danach, wie Weltbeherrschungspiele in der Art von "Civilization" die politischen Überzeugungen des Spielers formen.

Und in den feministischen "Game Studies" - ja, so etwas gibt es nun auch - wird untersucht, ob Lara Croft ein feministisches Idol oder ein "Cyberbimbo" sei. Aus dem Genderumfeld schließlich kommt die Frage, ob "Die Sims" Geschlechterklischees reproduziere, weil ein männlicher Spieler nicht die Möglichkeit besitzt, Frauenkleidung zu tragen: Homosexualität und Transsexualität können im Spiel also nicht ausgedrückt werden.

Wann immer solche Diskussionen geführt werden, steht dahinter die grundsätzliche Frage nach der ideologischen Struktur von Computerspielen, ja von Spielen überhaupt. Sind wir frei, wenn wir spielen - oder glauben wir es nur? Das Spielen, behaupten viele Autoren, habe grundsätzlich einen antiautoritären Zug. Der Spieler versuche, die Regeln des Spiels so weit wie möglich auszureizen und zu überwinden.

Er spiele gewissermaßen gegen das Spiel. Dagegen wendet der Kulturwissenschaftler Claus Pias ein, der Spieler glaube nur, das Spiel zu spielen, während es tatsächlich ihn beherrsche. Denn die Regeln des Spiels formten sein Verhalten, der Spieler ist - anders als in Literatur und Film - zu sehr in seinem Spiel involviert. Darum verlange auch das Computerspiel nach der Kunst als dem Ort, an dem der Mensch sich der Strukturen bemächtige, die sich seiner bemächtigen wollen, wie Pias mit Hinblick auf die "Appropriation Art" schreibt.

Die Kunst übernimmt

Tatsächlich haben Computerspiele nicht nur einen wachsenden Einfluss auf andere Künste wie Film, Literatur oder auch Tanz. Sie werden selbst zum Gegenstand der Kunst, auch im Sinne einer feindlichen Übernahme. Dabei werden häufig gerade jene Automatismen bloßgestellt, die die Regeln des Spiels im Spieler verankern. Eines der bekanntesten Beispiele dafür ist die Tetris-Performance aus dem "Game-Over-Projekt" von Guillaume Reymond, in dem Menschen zu Spielsteinen werden.

Auch der Mashinima-Film gehört zum Genre des Spiels im Spiel. Mashinimas benutzen eine Spielwelt als Hintergrund, um darin Trickfilme zu erzählen. Bekannt ist der frühe Mashinima "Anna", der das Schlachtfeld von "Quake III" benutzt, um die Geschichte einer Blume zu erzählen. Ob Computerspiele selbst parodistisch sein können, ist bislang kaum untersucht.

Die Parodien würden sicher zunehmen, bekämen Spieler Zugriff auf die Programmcodes, um in die Abläufe des Spiels eingreifen zu können - was sich viele wünschen. Sie wollen hinter die Spieloberflächen. Und wie groß das Freiheitsverlangen der Spieler ist - mag das Bewusstsein von Freiheit sie auch täuschen - zeigt schließlich auch der Erfolg der Spielereihe "Grand Theft Auto", die es nicht bloß zulässt, sondern herausfordert, dass man den Spielzweck ignoriert und sich einfach nach Lust in der Spielewelt bewegt.

© SZ vom 17.5.2008/mri - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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