Waldpilz-Zucht:Die Magie des Körnchenschirmlings

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Pilzzüchter klagen über Konkurrenzdruck: Hohe Strahlenwerte und giftige Exemplare können Schwammerlsucher nicht abschrecken.

Mike Szymanski

Schwer zu sagen, ob dies ein guter Pilztag wird. Er fängt mit einem Knollenblätterpilz an und Manfred Enderle wirkt beim Anblick seines Fundes gelangweilt. Das könnte man vielleicht als ein gutes Zeichen deuten. In seinem Krimi Nachtwanderer hat Enderle über seine Hauptfigur, den Schurken Thomas Graun, geschrieben: Er pulte eine Rotkappe aus dem Boden, eine seltene sogar.

Ein Schwammerlsucher hat einen Steinpilz entdeckt. (Foto: Foto: AP)

Das war kein gutes Omen. Immer wenn er zu Beginn etwas Interessantes fand, verlief der Rest meistens enttäuscht. Jetzt murmelt Enderle etwas von "leicht giftig" und dann hat er aber schon einen Amiant-Körnchenschirmling im Moos entdeckt und eilt voraus.

Enderle kann fast allem, was hier im Bubesheimer Wald nahe der schwäbischen Stadt Günzburg wächst, Namen geben. Lateinische und deutsche. Und wer zwei Stunden mit dem 61-jährigen Pilzkundler unterwegs ist, versteht, warum er meint, in den Wald zu gehen, sei für ihn so abwechslungsreich wie Fernsehen schauen. Er sehe immer andere Bilder.

Viele Menschen gehen jetzt in den Wald, um Pilze zu suchen. Aber kaum einer versteht davon so viel wie Manfred Enderle. Jahrzehntelang hat er nichts anderes in der Freizeit gemacht, als Schwammerl zu bestimmen und Bücher darüber zu schreiben. Und als er erstmal genug hatte, schrieb er einen Krimi, den Nachtwanderer. Darin wird mit giftigen Pilzen gemordet. Mit Enderle in den Wald zu gehen, dürfte also nicht langweilig werden. Ein bisschen ist es gerade wie in seinem Buch. Der Herbst war ins Land gezogen. Die Luft roch nach Erde und Laub. Der Wald rief...

22 Kilo pro Stunde

Allein solchen Gedanken nachzuhängen, kostet Ioan Popa schon wertvolle Zeit. Der 37-jährige Rumäne steht auf einer Leiter und erntet Champignons. Er braucht die Leiter, weil die Beete in Blechen liegen, die in einem Regal übereinander gestapelt sind. Die Champignons wachsen in dieser fensterlosen Halle nicht nur nebeneinander, sondern auch übereinander. Popa hält meist vier bis fünf Pilze auf einmal in der Hand, kappt deren Füße mit blinder Routine, bevor er die Pilze in einen Pappkarton fallen lässt. Plopp, plopp, plopp.

Popa schafft 22 Kilo Pilze die Stunde. Nur wer schnell genug ist, kann den Basislohn von Fünffünfzig auf elf Euro hochtreiben. Dann ist es ein guter Job, wie Popa in gebrochenem Deutsch sagt, um sich gleich wieder der Arbeit zuzuwenden. In der Pilzzucht Schmaus in Pöttmes, der größten in Bayern, geht es zu wie in einer Fabrik.

Man begegnet hier sogar Arbeitern im Overall. Wenn man so will, ist dies die weniger wählerische Seite der Pilzsaison. Oder die industrielle. Knapp 40 Tonnen Champignons verlassen jede Woche den Bauernhof in Lastern, auf denen Pilze aufgemalt sind. Andreas Schmaus würde sich auch niemals Sammler nennen, eher schon Unternehmer. In dritter Generation führt der 39-Jährige die Pilzzucht.

Champignos "kennt ja jeder"

Knapp 90 Leute arbeiten für ihn, zumeist sind es osteuropäische Erntehelfer wie Popa. Die Bundesbürger warten auf Schmaus' Pilze. Fast anderthalb Kilo an Frischware verdrückt jeder im Jahr. Und vor allem im Herbst holen die Leute ihre Kochbücher aus den Schränken, um neue Rezepte auszuprobieren. Mit Champignons kann niemand etwas falsch machen, sagt Schmaus über die Beliebtheit des Pilzes. "Den kennt ja jeder."

Für einen gewöhnlichen Champignon bückt sich Manfred Enderle gar nicht mehr. Er sagt, die Leute gingen ja auch nicht in erster Linie in den Wald, weil sie Hunger hätten. Obwohl. Manchmal könnte er den Eindruck bekommen. Bei den Führungen, die er gibt. Wenn die Leute einen Pilz entdeckt haben, fragen sie Enderle immer: "Kann man den essen?" Er könne das nicht mehr hören.

Vor 30 Jahren hatte Enderle selbst einmal an einer Pilzführung teilgenommen. Damals hatte er so wenig Ahnung wie die Leute, die ihm heute brav hinterhertrotten. Aber dieser Tag im Wald hatte in ihm ein Gefühl geweckt, das zwischenzeitlich wohl mit Besessenheit am besten beschrieben war. "Während andere anfingen, Häuser zu bauen, habe ich Pilze unter dem Mikroskop untersucht."

Lesen Sie weiter, was sich hinter "Enderles Samthäubchen" verbirgt...

In seinem Buch "Die Pilzflora des Ulmer Raumes" hat er fast 3000 Arten beschrieben. Ein Pilz trägt sogar seinen Namen: "Enderles Samthäubchen", heißt der. Führungen mit ihm sind lange im voraus ausgebucht. Die Leute wollen mehr über Pilze wissen. Die Deutsche Gesellschaft für Mykologie, in der Pilzfreunde organisiert sind, spürt auch ein steigendes Interesse. "Die Menschen verbringen wieder mehr Zeit in der Natur", sagt der Pilzsachverständige Walter Pätzold. Dass in manchen Pilzen auch 22 Jahre nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl erhöhte Strahlenwerte nachgewiesen werden, schreckt immer weniger Sammler ab.

Im Wald lauert der Tod

Natürlich ist es die Neugierde, die die Menschen in die Wälder treibt. Und ein bisschen Abenteuerlust, noch angefacht von Schlagzeilen wie sie neulich etwa in der Welt zu lesen waren: "Im Waldboden lauert auf Pilzsucher der Tod." Immer schon hatten die Gewächse etwas Geheimnisvolles - nicht nur wegen des Giftes, das manche in sich tragen. Enderle kann Pilze zeigen, die bluten, wenn man die Lamellen nur leicht mit dem Fingernagel berührt oder solche, die bei der kleinsten Berührung ihre Sporen millionenfach verspritzen. Er nennt das Magie.

Es ist natürlich kein Zufall, dass Enderle, als er auf die Idee kam, ein Buch zu schreiben, ausgerechnet das Genre des Krimis wählte. "Schon bei den Römern wurden Menschen mit Giftpilzen getötet", erzählt er. In seinem Buch will sich Krankenpfleger Graun, ein leidenschaftlicher Pilzsammler wie Enderle, bei einem Mann rächen, der ihm seine Frau ausgespannt hatte.

Bei Sammlern ist der Krimi ein Geheimtipp, auch weil so viele Pilznamen darin vorkommen. Enderle lebt von seiner Rente, die er für seine früheren Jobs als Übersetzer und als Kaufmann im Exportgeschäft bekommt. Er hat's mit dem Herzen und ist Vorruheständler. Dass ihm sein Arzt lange Spaziergänge empfohlen hat, ist ein glücklicher Umstand. Jeden Tag geht Enderle in den Wald. Mit den Pilzführungen verdient er sich etwas dazu. Und im Herbst berät er den Gemeinden Sammler, die ihre Funde wie Beute vor ihm ausbreiten.

Wenn für die Erntehelfer der Pilzzucht in Pöttmes um 16 Uhr der Arbeitstag endet, spürt jeder noch lange die Schicht in den Knochen. Gisela Schlama etwa, eine Polin von kräftiger Statur und heiterem Gemüt, greift sich ins Kreuz. "Schwere Arbeit", sagt die 51-Jährige. Bücken, pflücken, Kisten schleppen. Fünf Tage die Woche. Hier ist das ganze Jahr über Herbst. Da kann einem schnell die Lust auf Pilze vergehen.

8000 Supermärkte werden beliefert

Nur von der Straße aus sieht das Anwesen noch aus wie ein Bauernhof. Hinter dem Parkplatz reiht sich dann eine Blechhalle an die andere. Auf einer Fläche von 10000 Quadratmetern wachsen die Pilze. Drei Wochen bis zur Ernte. Die Luftfeuchte liegt konstant bei 80 Prozent, die Temperatur bei 17,5 Grad Celsius. Aufbereiteter Pferdemist bildet den Nährboden.

Manchmal schauen die Landwirte in Pöttmes neidisch auf Schmaus' großen Hof, der so schön gepflastert ist. Damals, als der Großvater von Andreas Schmaus meinte, Viehhaltung und Ackerbau habe keine Zukunft und die Familie 1974 die Tiere verkaufte, da dachten die Nachbarn, der alte Schmaus hätte jetzt den Verstand verloren, ausgerechnet Pilze zu züchten. Aber das Geschäft florierte.

Begonnen hatte die Familie mit einer Ernte von 50 Kilo Champignons am Tag, heute sind es 8000. Supermärkte und Discounter verkaufen die Pilze von Schmaus. Aber nur etwa die Hälfte der Pilze, die im Handel zu haben sind, stammen noch aus deutschem Anbau. Die Niederlande und Polen gehören zu den größten Champignon-Lieferanten in Europa.

Besonders Osteuropa setze den deutschen Züchtern mit Billigchampignons gehörig zu, klagt Andreas Schmaus, während er durch die Hallen führt. "Es ist ein gnadenloser Verdrängungswettbewerb geworden." Viele Züchter hätten schon aufgeben müssen. Manchmal wünscht er sich, dass die Verbraucher alle so wählerisch wären wie die Pilzsammler im Wald. Aber seine Pilze haben jede Magie verloren. Sie machen nur satt.

© SZ vom 20.09.2008/jtr - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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