Traditionen zu Allerheiligen:Die Hexe von Aschau

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In der Nacht vor Allerheiligen stellt sie Kerzen auf, um den Seelen der Verstorbenen den Weg zu leuchten. Martina Glatt ist Reiseleiterin, Rutengeherin - und Hexe.

Martin Kotynek

Für die einen ist es bloß die Nacht vor Allerheiligen. Für Martina Glatt ist es eine Nacht voller Geheimnisse, eine Nacht der Angst und Gefahr, in der die Welten offen stehen und die Ahnen auf die Erde zurückkehren; eine Nacht, in der Frau Percht mit ihrer wilden Jagdgesellschaft aus verwunschenen Seelen durch die Lüfte braust und dort, wo sie den Boden berührt, das Land segnet. Martina Glatt sagt, sie spüre den Ritt der Frau Percht. Die Leute im Dorf sagen, Martina Glatt ist eine Hexe.

Martina Glatt weiß, welche Bräuche rund um Allerheiligen einst gefeiert wurden. (Foto: Foto: Martin Kotynek)

"Hagazussa" - die Zaunsitzerin

Martina Glatt, 41, wohnt gleich hinter der Kirche in Aschau. An der Hauswand trocknen Wurzeln in der Sonne, ein Kräuterkranz und ein Drudenfuß bewachen das Tor und um den Holunderstrauch schleicht eine schwarze Katze. Folgt man Resi, der Katze, ins Haus und geht an dem Zauberstab im Flur vorbei, landet man in der Küche von Martina Glatt.

Dort sitzt die Frau mit dem unzähmbaren Haar unter einem Regal, in dem sich Tiegel und Einmachgläser türmen. Getrocknete Pilze, eingelegte Kräuter und allerhand Tinkturen befinden sich darin. Martina Glatt hat die Kräuter gesammelt, sie will das Wissen ihrer Vorfahren wieder lebendig machen.

Deshalb hat sie nichts dagegen, wenn man sie Hexe nennt, denn das Wort kommt vom althochdeutschen "Hagazussa": die Zaunsitzerin. Es waren jene weisen Frauen, die mehr als die Dorfbewohner wussten, außerhalb des Zaunes, des "Hags", lebten und von der Dorfgemeinschaft geschätzt wurden.

Sie standen zwischen beiden Welten - dem Dorf und dem Unbekannten davor, und genau dort sieht sich Glatt: "Ich sitze auf dem Zaun, der das alte Wissen der Dorfheilerinnen von unserem aufgeklärten Wissen trennt und vermittle zwischen den beiden Welten." Und immer mehr Menschen würden sich für das Wissen auf der anderen Seite des Zaunes interessieren, sagt sie: "Es ist eine große Öffnung da."

Die Lostage

Angesichts von Skelettkostümen, Kürbislampions und Schaumstoff-Draculas, die in der Nacht vor Allerheiligen ihren Weg auch bis in den Chiemgau gefunden haben, würden immer mehr Leute im Dorf überlegen, welche Bedeutung Halloween tatsächlich hat.

Dann erzählt die Aschauer Hexe, die sich selbst nie so nennen würde, dass diese Nacht bei den Kelten die letzte des Jahres war, eine Nacht des Überganges also, in der die Seelen der Verstorbenen zurückkehrten. Die einen stellten Lichter auf, um sie willkommen zu heißen, die anderen fürchteten, dass die Toten Unheil bringen würden und verkleideten sich, um die Geister zu verschrecken. Die Kelten glaubten, dass in dieser Nacht die Welten offen seien, und Martina Glatt glaubt es immer noch.

Ob die Geheimnisse rund um die Nacht vor Allerheiligen bloß keltisch inspirierter Hokuspokus mit einer Spur Esoterik ist, könne aber jeder nur für sich selbst herausfinden, sagt Glatt: "Allerheiligen ist ein Lostag, in der Nacht davor fällt es leichter, hinzulosen." Das bairische Wort "losen" verwendet Glatt häufig. "Es bedeutet mit allen Sinnen hinzuhören, dem Bauchgefühl und der inneren Stimme zuzuhören, dem eigenen Gespür zu vertrauen", sagt Glatt, die sich selbst auch als Losfrau bezeichnet.

Bauern zogen aus Ehrfurcht den Hut

Das Wissen um die Lostage ist unter den Bauern im Chiemgau noch lebendig, es ist im Brauchtum überliefert. An diesen besonderen Tagen sollen sich die Zukunft und das Wetter vorhersagen. Es sind auch die Tage besonderer Rituale: Noch heute legen manche Bauern in der Nacht vor Allerheiligen Lebensmittel unter den Holunderstrauch. Er gilt als der Baum der Ahnen, der Baum der Frau Percht, der Beschützerin der Seelen. Vor dem Strauch zogen Bauern noch vor 80 Jahren aus Ehrfurcht den Hut.

Dem Brauchtum zufolge zieht Frau Percht mit ihrer Schar das nächste Mal in den Raunächten über das Land. Das sind jene zwölf Nächte, die zwischen dem Heiligen Abend und dem Dreikönigstag liegen. Im Mondkalender fehlen diese zwölf Tage am Ende des Jahres. Um mit dem Sonnenjahr in Übereinstimmung zu bleiben, wurden sie eingeschoben, die Gesetze der Natur sollen daher außer Kraft gesetzt sein. Um böse Geister fern zu halten, schlugen die Menschen in diesen Nächten Krach - heute setzt sich dieser Brauch bei den Feuerwerken zu Silvester oder in den Perchtenläufen fort.

Kerzen für den Tross der Frau Percht

In der Nacht vor Allerheiligen wird Martina Glatt Kerzen aufstellen, um den Seelen aus dem Tross der Frau Percht den Weg zu leuchten, sie wird ihr Haus mit Holunderholz räuchern und darum bitten, dass die armen Seelen ihren Weg finden. Schon als Kind kam sie mit diesem alten Wissen in Berührung. "Meine Großmutter Maria aus Niederbayern hat mir einfach eine Wünschelrute in die Hand gegeben. Die Rute hat sofort ausgeschlagen", erzählt Martina Glatt.

Einlassen wollte sie sich darauf jedoch zunächst nicht. Erst die schwere Krankheit eines ihrer vier Kinder brachte sie wieder mit dem alten Wissen in Kontakt. Auch heute hat die Frau, die sich in der Tradition der weisen Frauen sieht, die Bodenhaftung nicht verloren. Von Esoterik und schwarzer Magie hält sie nichts. "Die Okkultisten glauben, dass es in ihrer Macht steht, Dinge zu beeinflussen - ein Irrglaube", sagt Glatt.

Die gelernte Reiseleiterin arbeitet als Gästeführerin in Aschau und begleitet die Besucher auf den alten Wegen, die durch den Chiemgau verlaufen. Sie zeigt ihnen Kraftplätze und erzählt alte Sagen aus der Region. Dabei drückt sie ihren Gästen manchmal auch eine Wünschelrute in die Hand und fordert sie auf, "hinzulosen" und auszuprobieren, ob sie Wasser spüren können. "Das wichtigste dabei ist, loszulassen, innerlich leer zu werden. Dann kommen die Antworten von selbst", sagt Glatt. Manchmal schlägt die Rute plötzlich aus. Dann lacht sie, die Hexe von Aschau.

© SZ vom 31.10.2008/jkr/odg - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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