Psychologie von Amokläufern:Sammler von Ungerechtigkeiten

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Die Psychologie von Amokläufern: Wer wird zum Amokläufer, was sind die Folgen für die Betroffenen - und wie man solche Taten verhindern kann.

Max Hägler

Aus Winnenden und Erfurt waren Polizisten und Pädagogen gekommen, dazu Wissenschaftler und Politiker aus Bayern: "Extremsituation Amoklauf"' - so hatte die Landesgruppe der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG) ihre Jahrestagung in dieser Woche betitelt. Die Veranstaltung war zwar schon lange geplant, erhielt durch die jüngste Bluttat in Ansbach aber eine neue Aktualität. Ein Überblick über die wichtigsten Beiträge der Fachtagung in Ingolstadt.

Wer wird zum Amokläufer?

Dazu hat Psychiatrieprofessor Armin Schmidtke von der Universität Würzburg ein recht genaues Bild. Zwischen 16 und 30 Jahre alt seien die Täter, meist männlich, besuchten zumeist "gute" Schulen. Zuneigung haben sie oft nicht erfahren, im Elternhaus nicht und auch nicht von Freunden. Selten haben sie eine feste Freundin. Und vor allem, so meint Schmidtke, seien Amokläufer übersteigert empfindlich gegenüber Kränkungen - verursacht durch Persönlichkeitsstörungen oder Psychosen.

"Sammler von Ungerechtigkeiten" nennt er diese Menschen, die irgendwann nur noch die Alternativen Rache oder Tod sähen - und als Ausweg daraus den stillen Suizid oder den öffentlichkeitswirksamen Amoklauf. "Durch eine Kette von belastenden und kränkenden Ereignissen kommt es zur Tat."

Das letzte, auslösende Ereignis sei dabei für Außenstehende oft nicht nachvollziehbar. "Das kann die Tasse Kakao sein, die jemandem nicht hingestellt wurde." Wobei Schmidtke doch einen feststellbaren Beweggrund nennt: Nachahmung.

Mehr als die Hälfte aller Amoktaten findet in den zehn Tagen nach der Berichterstattung über ein Attentat statt: In den Tagen nach Winnenden wurden etwa in der Jugendpsychiatrie in München 20 männliche Jugendliche behandelt. Sein Tipp deswegen: Keine "Hitliste" von Amoktaten abdrucken und eigentlich auch keine Trauerkultur zulassen, so schwer das für die Angehörigen auch sei. Denn ein Staatsakt führe mitunter zu einem "Will ich auch".

Für die Erstdiagnose instabiler Personen hat Schmidtke ein einfaches Kriterium parat: "Man muss prüfen, ob die Person Humor hat." Wenn jemand etwa noch lachen könne über den Vorschlag, die erlittene Ungerechtigkeit für alle Welt sichtbar an die Chinesische Mauer zu pinseln, dann sei alles halbwegs im Lot.

Professor Helmut Lukesch von der Universität Regensburg hält auch Gewaltvideos oder sogenannte Killerspiele für eine der Ursachen für Gewalttaten. "Je neuer die Studien sind, desto deutlicher sind diese Ergebnisse." Solche Medien seien nur Teil der relevanten Einflussfaktoren, aber auch Teil einer Abwärtsspirale. "Wer sowieso schon aggressiv ist, wendet sich Gewaltmedien zu."

Wie reagieren die Schulen?

Es ist noch nicht lange her, da gab es offiziell keine Sicherheitsprobleme an Schulen. Prügeleien und Drogenvorfälle wurden verschwiegen. Wie anders klingt die Diagnose des Ministerialrats Thomas Schäfer vom Bayerischen Kultusministerium nach dem jüngsten Amoklauf in Ansbach: "Das sind keine Einzelfälle, da haben sich gesellschaftliche Dinge verändert." An den einzelnen Schulen werde das mitunter noch ausgeblendet. Dabei gäbe es häufiger Amokdrohungen "als wir denken". Mindestens zweistellig sei die Zahl pro Jahr in Bayern.

Und fünf Prozent der Kinder und Jugendlichen seien psychisch krank. "Das sind 50 von 1000", verdeutlicht er die Problematik an großen Schulen. Eine Konsequenz des Ministeriums: Schulleiter bekommen Fortbildungen in Krisenmanagement. Der Forderung eines Psychologen bei der Tagung, den Leistungsdruck in Schulen abzustellen, teilt der Beamte aber nicht: "Schule ist dem Leistungsprinzip verpflichtet." Damit gäbe es auch Misserfolgserlebnisse und mitunter Brüche. Früher allerdings sei so etwas ein Verwaltungsakt gewesen; ein gescheiterter Schüler habe dann eben an einer anderen Schulart weitergemacht.

Heutzutage gebe es eine "neue Qualität" beim Erfolgsdruck, das gesteht auch Schäfer ein. Damit könnten die Schulen "noch nicht in ausreichendem Maße" umgehen. Man müsse lernen, die Gescheiterten und die Mobbing-Opfer zu betreuen. Zugleich müssten sich an Schulen generell wieder besondere Verhaltensregeln etablieren, die den Lernort vom Alltag unterscheiden.

Zentrale Forderung von Schäfer: feste Psychologen an jeder größeren Schule - in Ansbach war einer für drei Schulen zuständig. "Einer von uns sollte die Schule ständig beobachten und Ansprechpartner sein", sagt Schäfer. Gäbe es diese personelle Unterstützung, "dann kämen wir zurecht", meint Schäfer - und warnt zugleich vor überzogenen Reaktionen bei ungewöhnlichem Verhalten.

Nach den jüngsten Amoktaten habe es an jeweils anderen Schulen in Bayern "Panik" gegeben. "Es gab Klassen, wo kein Lehrer mehr reingehen wollte."

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Was tut die Polizei?

Das Thema Amok ist erst seit dem Jahr 2003 im Einsatz-Leitfaden der Polizei, der Polizeidienstverordnung, explizit geregelt. Seitdem habe sich ein ,,Perspektivwechsel'' vollzogen bei solchen Einsätzen, sagt Landespolizeichef Waldemar Kindler. Wo man früher den Einsatzort umstellt und auf Spezialkräfte gewartet habe, sei mittlerweile "unverzügliches Handeln durch jeden Außendienstbeamten" gefordert, und das werde auch trainiert.

Das "Handlungsunfähigmachen des Täters" habe oberste Priorität, dabei werde auch ein erhöhtes persönliches Risiko eingefordert. "In Ansbach wurde zum ersten Mal in der Praxis umgesetzt, was wir konzipiert haben", lobt Bayerns Innenminister Joachim Herrmann.

Im Ernstfall, so sagt Kindler, sei auch die Polizeiführung mittlerweile besser auf Amoksituationen in Schulen eingestellt: In den Einsatzzentralen seien Baupläne der Schulen und Ansprechpartner hinterlegt.

Mehr "vorsorgende Psychologen anstatt nachsorgender Therapeuten" fordert Hermann Benker, der Landesvorsitzende der DPolG. Und er verlangt eine noch stärkere Zusammenarbeit mit den Schulen, schließlich sei es nur eine Frage der Zeit, bis sich wieder ein Amoklauf ereigne. Derzeit fehle von den Schulen oft das Feedback nach Gesprächen über Sicherheitskonzepte. Technische Hilfsmittel wie Metalldetektoren oder Videoanlagen sieht er kritisch. Wichtiger seien Menschen: "Wo ist der Hausmeister von früher?" Der habe sein Umfeld stets genau im Blick gehabt.

Wie reagiert die Politik?

Innenminister Herrmann wiederholt in Ingolstadt nicht so sehr die alte CSU-Forderung nach dem Verbot von Killerspielen als Lösung gegen zunehmende Gewaltexzesse - da sind die Polizeigewerkschafter überrascht. Er betont stattdessen den Stellenwert der Betreuung der Schüler, insbesondere am Nachmittag. Früher seien die Schüler zur Oma, den Pfadfindern oder in den Fußballverein gegangen.

Heute seien sie oft alleine daheim, kämen in Konsequenz "im wahrsten Wortsinne unerzogen" in die Schule. Um Jugendliche dann vor einem Abdriften zu bewahren, das einzelne letztendlich vielleicht gar in einen Amoklauf treibe, müsse der Staat "einen sinnvollen Nachmittag" garantieren können. Die Regierung sei bei solchen Ganztagsangeboten auf einem guten Weg, sagt Herrmann. Wobei er eingesteht, dass man bislang "merkwürdigerweise" die Grundschulen außer Acht gelassen habe.

Die Folgen für Betroffene?

Verarbeitet hätten viele seiner Kollegen den Amoklauf von Winnenden im März noch nicht, sagt der damals zuständige Einsatzleiter Ralf Michelfelder. Fünf Beamte würden derzeit behandelt. Darunter ein Kriminaltechniker, der ein Klassenzimmer untersuchen musste, in dem ein erschossenes Mädchen lag. Während seiner Arbeit habe das Handy des Mädchens geklingelt. Auf dem Display das Wort: Papa. "Das geht dem Kollegen nicht mehr aus dem Kopf", sagt Michelfelder. Wichtiges Thema für ihn sei deswegen die Suizidprävention.

Und für die Schulen in seinem Bezirk gilt mittlerweile: "Auf die haben wir mittlerweile dasselbe Augenmerk wie auf Banken oder andere hochgefährdete Objekte."

Am Erfurter Gutenberg-Gymnasium haben sie nach den Geschehnissen vor sieben Jahren - ein ehemaliger Schüler erschoss 16 Menschen - befristet einen Psychologen eingestellt, einen Mann, der für die Bundeswehr im Kosovo war. "Der hat ganz gut gepasst", meint Ministerialrat Wilfried Hegen vom Thüringer Schulministerium. Mehr als fünf Millionen Euro habe die Aufarbeitung der Amoktat bislang gekostet, vorbei sei die Arbeit immer noch nicht. Seine Lehre aus dem Amoklauf: Pragmatismus.

Die Schülermitverwaltungen wurden gebeten, mitzuwirken, um ungewöhnliches Verhalten schnell zu melden. Alle Elternsprecher in Thüringen bekommen mittlerweile Notfall-Handys gestellt, damit sie im Ernstfall sofort erreichbar sind.

© SZ vom 24.9.2009/bica - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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