Nicht mehr zweite Wahl:Eine Stadt tritt aus dem Schatten

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Neues Zentrum, neuer Bahnhof, neues Selbstbewusstsein - Neu-Ulm ist dabei, seinen Komplex gegenüber dem Nachbarn Ulm zu überwinden.

Mike Szymanski

Gleich zu acht sind sie an diesem Abend in die Aula der Peter-Schöllhorn-Volksschule gekommen. Neu-Ulms Oberbürgermeister Gerold Noerenberg (CSU) hat seinen gesamten Beraterstab um sich versammelt. Den Baudirektor, den Verkehrsplaner, einen eigenen Schriftführer, diverse Sachbearbeiter. Es sollen keine Fragen offen bleiben, wenn Noerenberg, 49, seinen Bürgern erklärt, wie die Stadt endlich aus dem Schatten des übermächtigen Nachbarn Ulm heraustreten will.

Die Parkanlage Glacis ist einer der Orte an dem in Neu-Ulm die Bayerische Landesgartenschau 2008 stattfinden soll. (Foto: Foto: dpa)

Jetzt hat Bruno Wojatschek das Mikrofon ergriffen, ein im Reden geübter Immobilienentwickler. Dessen Arbeitgeber, Procom aus Hamburg, will Neu-Ulm für 100 Millionen Euro ein Einkaufszentrum mit 90 Geschäften in die Stadtmitte stellen. Er redet nicht lange. Aber dafür sitzt jeder Satz. Vor allem einer: ,,Auch die Ulmer werden dann zu Ihnen nach Neu-Ulm kommen'', verspricht er den 70 Bürgern, die zu der Versammlung gekommen sind.

Das sagt schon viel über die Gemütslage in Neu-Ulm. Als kleinerer Teil der Doppelstadt Ulm und Neu-Ulm, die die Donau teilt, hatte man hier lange Zeit Komplexe gepflegt. Neu-Ulm, mit 50.000 Einwohnern knapp halb so groß wie der Nachbar, ist das ewige Anhängsel. So denkt man hier und leidet. Aber damit soll ein für alle Mal Schluss sein.

Nur wenige hundert Meter von dieser Schule entfernt versagt das Navigationssystem. Baukräne ragen in den Himmel, und der Autofahrer wird durch ein Labyrinth von Umgehungsstraßen getrieben. Neu-Ulm ist eine einzige Baustelle.

Den alten Bahnhof haben sie dem Erdboden gleich gemacht und einen neuen gebaut. ,,Neu-Ulm 21'' heißt das Vorzeigeprojekt der Bahn, das sich noch hinter Bauzäunen versteckt. Für knapp 200 Millionen Euro wurden die Gleise in einen unterirdischen Betontrog verlegt. Und oben entstand auf einer 18 Hektar großen Fläche Platz für lang gehegte Träume.

,,Ein Ruck''

Man kann die Neu-Ulmer schon verstehen, wenn sie meinen, sie wären nun endlich auch mal an der Reihe. Geschichtlich gesehen waren es die Bürger Neu-Ulms, die für den übermächtigen Nachbarn auf baden-württembergischer Seite stets die Köpfe hingehalten haben. Es ging schon damit los, dass Neu-Ulm als Brückenkopf einer großen Festungsanlage angelegt worden war und erst 1869 zur Stadt erhoben wurde - anfangs kaum mehr als eine zufällige Ansiedlung von Gärten, Höfen, Wirtshäusern, einem Grenzposten und einer Zollstation.

Bis heute fühlt man sich in Neu-Ulm benachteiligt: Jenseits der Donau hat sich Ulm gleich eine eigene Wissenschaftsstadt gebaut, während die Neu-Ulmer hart dafür kämpfen mussten, dass ihre Fachhochschule eigenständig wird und ein neues Haus bekommt.

Drüben die schönen Einkaufsstraßen, hier trostlose Ladenzeilen. Auf der anderen Seite das Münster. Neu-Ulm hatte nicht einmal ein Stadtzentrum, das nach etwas aussieht. Als die frühere Oberbürgermeisterin Beate Merk Mitte der 90er Jahre mit kühnen Plänen für einen neuen Bahnhof warb, wurde sie verspottet.

,,Damals hatte keiner daran geglaubt'', sagt Johannes Zahn, 47. Er ist Chef der Industrie- und Handelskammer in Neu-Ulm. Seine Firma stellt Marken-Schilder für namhafte Firmen her und hat ihren Sitz in einem etwas versteckten Gewerbegebiet. ,,Man muss neidlos eingestehen, dass Ulm atmosphärisch natürlich mehr hermacht.''

Dies dürfe aber nicht über die vielen kleinen Erfolge hinwegtäuschen. Mit einer Arbeitslosenquote von knapp über fünf Prozent könne sich die Stadt schließlich sehen lassen. ,,Es geht ein Ruck durch Neu-Ulm'', sagt er. ,,Die Zeiten, als man sich als Zweite-Wahl-Stadt gefühlt hat, sind vorbei.''

An dem neuen Selbstbewusstsein arbeiten auch fleißig die zwei 27-jährigen Frauen, die umgeben von Stadtplänen in ihrem Büro am Rande des Zentrums in ihren Kaffeetassen rühren. Die Dunkelhaarige heißt Josephine Hafner und macht Werbung für die Landesgartenschau, die in einem Jahr in Neu-Ulm eröffnet wird. Die Dunkelblonde, Lisa Geißler, ist Landschaftsarchitektin. Und beide können etwas erzählen von dieser geschundenen Stadt.

,,Es ist ja so'', sagt Josephine Hafner, ,,die Stadt hat keinen Stadtkern, keine tolle Geschichte, und sie hat sich nicht homogen entwickelt. Sie ist durchschnitten von Ring- und Europastraßen.'' Vor 27 Jahren war Neu-Ulm schon einmal Austragungsort für die Blumenschau. Dass die Stadt ein zweites Mal den Zuschlag bekommen hat, heißt eigentlich nur, dass es hier immer noch viel zu tun gibt.

,,Wir sind ein städtebaulicher Reparaturbetrieb'', sagt Architektin Geißler. ,,Aber das hören die Städte nicht gern.'' Jetzt wollen sie die restlichen Wunden heilen in der Stadt, die im Zweiten Weltkrieg platt gemacht und danach lieblos wieder aufgebaut wurde. Das Konzept trägt die Überschrift ,,Grüne Brücke''. Die neuen Wohnviertel im Süden, die auf alten Kasernenarealen entstanden sind, sollen für 17 Millionen Euro Teil der Stadt werden. ,,Man muss hier wirklich mutig eingreifen, das braucht die Stadt'', sagt Lisa Geißler.

Kleine Sorgen

So denkt auch Oberbürgermeister Noerenberg. Keine halben Sachen mehr. Eine Stunde lang sprachen die Experten in der Aula über das Einkaufscenter, stellten Pläne vor und Prognosen. Ein Modell in der Aula zeigt das Shopping-Center wie es sich die Architekten vorstellen. Ein eckiger Gebäuderiegel, der dort errichtet werden soll, wo früher die Bahn fuhr. Wenn der Komplex vielleicht 2010 einmal steht, werden knapp 9000 Autofahrer zusätzlich ins Zentrum pendeln.

Jetzt haben die Bürger das Wort: Frau Müller will wissen, was die Stadt gegen den drohenden Stau zu tun gedenkt, ein Eiscafé-Besitzer sorgt sich um das alte, etwas abgelegene Einkaufscenter, das dann wohl dichtmachen könne. Herr Schneider will Bäume retten - in Frage stellt das Konzept aber niemand. Bevor Noerenberg die Runde auflöst, fragt er ein letztes Mal: ,,Gibt's Widerstände?'' Es bleibt still.

© SZ vom 15.5.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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