KZ-Häftlinge Flossenbürg:Der Bach voller Blut

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Ehemalige Gefangene besuchen das Konzentrationslager, in dem es auch Massenerschießungen gab. Die Archivarbeit entlastet nun den Vater des ukrainischen Präsidenten Juschtschenko.

Peter Schmitt

Sergej Rybalka war knapp 17 Jahre alt, als er im November 1942 in Flossenbürg ankam. Wehrmachtssoldaten hatten ihn bei ihrem Vormarsch zum Don 1942 hinter der Front in Poltawa in der Westukraine zusammen mit anderen Jugendlichen auf Lastwagen geladen und ins Deutsche Reich verfrachtet. Als Zwangsarbeiter war der Jugendliche eigentlich kein Fall für die SS und ein Konzentrationslager wie Flossenbürg in der nördlichen Oberpfalz. Doch die SS brauchte Einnahmen und dazu Menschen als Arbeitssklaven.

Ein ehemaliger KZ-Häftling steht in der KZ-Gedenkstätte in Flossenbürg (Oberpfalz) vor einer Schautafel. (Foto: Foto: dpa)

Der kräftige Junge aus der Ukraine war genau der richtige. Tatsächlich entwickelte sich der Schüler zum zähen Steinbrucharbeiter im Flossenbürger Granitberg. Er erlebte die Gräuel der KZ-Haft und wurde im April 1945 bei Cham auf dem Todesmarsch von den vorrückenden amerikanischen Soldaten befreit. Seine Geschichte erzählte er 2000 in der ukrainischen Großstadt Charkow der Süddeutschen Zeitung. Am Wochenende werden 70 ehemalige Häftlinge die einstige Stätte ihrer Leiden besuchen und von Ministerpräsident Günther Beckstein begrüßt.

Unterm Bretterboden

Rybalka war zu jung, um schon Uniform zu tragen, als der Krieg über seine Heimat hereinbrach, und wurde trotzdem Gefangener, wie fünf Millionen sowjetische Soldaten. Andrej Andrejewitsch Juschtschenko war mit 22 Jahren bereits Oberleutnant im Stab der motorisierten 29. Division. Er geriet kurz nach der für die sowjetischen Truppen verheerenden Kesselschlacht bei Bialystok in die Hände der Deutschen Wehrmacht.

Auch er wurde nach einer Odyssee durch verschiedene Kriegsgefangenenlager schließlich KZ-Häftling. Zuerst in Auschwitz und zuletzt in Flossenbürg. Nachdem er sich in einem Versteck unter dem Bretterboden einer Baracke der Räumung des Lagers durch die SS entziehen konnte, erlebte er am 23. April 1945 die Befreiung durch Einheiten der US Army. Mehr als 60 Jahre später traf der pensionierte Bergbauingenieur Rybalka im Juli 2007 den Sohn seines ehemaligen Mithäftlings. Viktor Juschtschenko ist Präsident der Ukraine und war wie er zur Eröffnung der neuen Dauerausstellung in Flossenbürg eingeladen.

Wie aus Kriegsgefangenen, die eigentlich unter dem Schutz der Genfer Konvention stehen, völlig rechtlose Häftlinge der SS werden konnten, ist Thema eines Sammelbands, den der wissenschaftliche Mitarbeiter der Gedenkstätte, Johannes Ibel, soeben herausgegeben hat.

Wenig dokumentierte Massenexekutionen

Konzentrationslager dienten anfangs insbesondere als Hinrichtungsstätten für in Gefangenschaft geratene sowjetische Soldaten, die ohne Rücksicht auf den Kombattantenstatus aus den Stammlagern der Wehrmacht ausgesucht und nach der "Entlassung" aus der Kriegsgefangenschaft bis Mitte 1942 meist sofort nach Ankunft in einem KZ erschossen wurden. "Zwischen Wehrmacht und SS spielte die Gestapo oft eine entscheidende Rolle", sagt Ibel.

Auch in Flossenbürg fanden solche Massenexekutionen statt. Sie sind allerdings nur in wenigen Fällen dokumentiert. "Das Reichssicherheitshauptamt hatte befohlen, die zur Ermordung bestimmten sowjetischen Kriegsgefangenen nicht in der Lagerkartei zu registrieren", schreibt die Historikerin Gabriele Hammermann von der Gedenkstätte des Konzentrationslagers Dachau in dem Sammelband (Johannes Ibel: Einvernehmliche Zusammenarbeit?", Verlag Metropol ISBN 978-938690-74-1). Sie spricht von 4300 bis 4500 exekutierten Rotarmisten in Dachau allein von September 1941 bis Juni 1942.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie das Archiv der Gedenkstätte Flossenbürg nun den verstorbenen Vater des ukrainischen Präsidenten rehabilitiert hat.

Ibel baute in den vergangenen Jahren eine Häftlingsdatenbank für Flossenbürg auf. Darin sind mehr als 90.000 Namen der insgesamt etwa 100.000 Inhaftierten in Flossenbürg und seinen Außenlagern erfasst. Von den exekutierten Soldaten sind allerdings nur sehr wenige Daten bekannt. So gilt als sicher, dass am 5. Januar 1943 der Generalmajor Iwan Michajlowitsch Schepetow aus einem Nürnberger Gestapogefängnis überstellt und kurz darauf erschossen wurde.

Bauern beschwerten sich gelegentlich, wenn Blut den vom KZ zum Dorf hinunter fließenden Bach verschmutzte. Ein Hinweis darauf, dass an manchen Tagen Massenerschießungen stattfanden. Auch aus Regensburg wurden immer wieder Gruppen sowjetischer Kriegsgefangener zur Tötung ins 100 Kilometer entfernte Flossenbürg gebracht. Ibel geht von mehr als 2000 im Lager ums Leben gekommenen sowjetischen Kriegsgefangenen aus.

Gesicherte Daten

Es gab auch Überlebende. Die zum Einsatz in den Lagern bestimmten Soldaten wurden ebenfalls formal aus der Kriegsgefangenschaft "entlassen" und der SS übergeben. Ihre Lagerbiographien spiegeln sich in den Karteikarten. Ibel verknüpfte in jahrelanger Arbeit Daten unterschiedlicher Erfassungsstellen, vor allem der Wehrmachtsauskunftsstelle mit Listen, die in ehemaligen sowjetischen Militärarchiven und anderen Dokumentensammlungen lagern. So entstanden gesicherte Datensätze über die aus der Sowjetunion stammenden Lagerinsassen.

Unvermutet konnte diese Archivarbeit jetzt einen Vorwurf in der Ukraine gegen den vor 16 Jahren gestorbenen Ex-Häftling Andrej Juschtschenko entkräften. Auf den Internetseiten der kommunistischen Nachrichtenagentur KPU-News tauchte eine umfangreiche Schrift auf, die sich mit Juschtschenkos Lagerzeit befasst. Allerdings mit dem Vorwurf, der einstige Oberleutnant sei williger Helfer der Nazis gewesen. Beweise wurden mit dem Hinweis, einschlägige Dokumente würden unter Verschluss gehalten, nicht geliefert.

"In der Ukraine sorgte das Internetbuch für sehr viel Aufsehen", sagt Michail Beletsky . Der Journalist aus Kiew flog nach Nürnberg, um sich in Flossenbürg Klarheit zu verschaffen. Der Ausflug erwies sich als lohnend. Die Aufzeichnungen über den Vater des ukrainischen Präsidenten weisen nur eine kurze Lücke nach der zunächst geglückten Flucht auf dem Transport von Auschwitz nach Flossenbürg im Oktober 1944 auf. Er wurde bald aufgegriffen und der Gestapo in Karlsbad übergeben.

"Nach allem, was wir über Andrej Juschtschenko wissen, sind die Vorwürfe unhaltbar", erklärt Ibel. Für ihn ist auch der Vermerk über eine Arbeitsprämie, die dem Häftling in Auschwitz-Birkenau zugeteilt wurde, kein Hinweis auf eventuelle Kollaboration. Sie sei Teil eines Belohnungssystems, um die Leistungsbereitschaft zu erhöhen und mit lediglich einer Reichsmark so gering ausgefallen, dass damit keine sonstigen Dienste "belohnt" worden sein könnten.

Für Beletsky stand nach dem zweistündigen Gespräch mit Ibel fest: "Die Vorwürfe entbehren jeder Grundlage und sollten offenbar dazu dienen, den Sohn des ehemaligen KZ-Häftlings und jetzigen ukrainischen Präsidenten herabzusetzen."

© Süddeutsche Zeitung vom 25.7.2008/dgr - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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