Flüchtlingslager in Kurdistan:Fluch der Flucht

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60.000 verzweifelte Menschen auf der Flucht: das kurdische Flüchtlingslager Domiz. (Foto: AFP)

Die autonome Region Kurdistan ist ein Sammelbecken für entwurzelte Menschen aus dem Zentralirak und aus Syrien: Im Flüchtlingslager Domiz leben 60.000 verzweifelte Menschen. Unterwegs in einem geschundenen Land.

Eine Reportage von Thomas Anlauf

Jenseits des Stacheldrahtzauns könnte einmal das Paradies gewesen sein. Der kleine Yussif steht auf der anderen Seite des Zauns, mitten im kurdischen Flüchtlingslager Domiz. Seine Hand ist merkwürdig verkrüppelt, die Haut verbrannt, der Blick des Kindes leer. Seine Mutter, eine hochgewachsene schlanke Kurdin, trägt Schwarz.

Ein genetischer Defekt, behauptet sie und deutet auf die Hand des Kleinen. Gerade kommt sie aus dem provisorischen Traumahilfezentrum in der riesigen Zeltstadt. Sie hofft auf ein wenig Frieden für sich und Linderung der Schmerzen für ihren Sohn. Die beiden sind am Ende, am Ende einer Flucht. Sie kamen aus Syrien, so wie die anderen 60.000 Menschen hier, die vor dem Krieg im Nachbarland in die Zeltstadt der autonomen Region Kurdistan geflohen sind. Nun stehen sie auf einer Staubpiste im Nichts, begrenzt von Stacheldraht und Wüste.

Kurdistan, ein Streifen der Hoffnung im blutigen Nahostkonflikt. Und trotzdem liegt auf dem kleinen Land mit fünf Millionen Einwohnern der Fluch der Flucht. Hier, wo Euphrat und Tigris in die weite Ebene Mesopotamiens fließen, spielen sich seit biblischen Zeiten immer wieder Flüchtlingsdramen ab. Inmitten des Zeltlagers Domiz, das sich bis zum Horizont erstreckt, steht Thomas Prieto Peral. Der 47-jährige Kirchenrat aus dem oberbayerischen Grafrath blickt über die unzähligen Zelte des Flüchtlingshilfswerks UNHCR, als suche er irgendwo Halt. "Bei solchen Schicksalen stoße ich an meine Grenzen", sagt er und kneift die Augen in der Morgensonne zusammen. Er hat den Namen des kleinen Yussif notiert, die Krankenakte des Kindes überflogen. Prieto Peral befürchtet, dass der Bub Opfer eines Giftgasanschlags geworden ist. Der Vater von drei Kindern ist gerade wieder einmal in Kurdistan, in heikler Mission: Er will helfen, im Namen der Kirche.

Die evangelisch-lutherische Landeskirche Bayerns hat seit vielen Jahren Kontakt zu Hilfsorganisationen im Nahen Osten. Seit fast zehn Jahren ist Thomas Prieto Peral verantwortlich für die bayerischen Aktivitäten der Landeskirche. Als Kirchenrat ist er zuständig für "Ökumene und Weltverantwortung", er versucht, in den Krisenregionen der Welt zu helfen, wo es geht. Einer seiner Schwerpunkte ist die autonome Region Kurdistan im Norden des Irak. Seit dem Sturz von Saddam Hussein im Jahr 2003 sind immer mehr Menschen auf der Flucht aus dem Süden des Landes. Sie fliehen zu Tausenden nach Norden, in der Hoffnung, dort dem Hass der Fanatiker zu entkommen.

Viele Christen sind unter ihnen, und noch viel mehr islamische Kurden. Das UNHCR schätzt die Zahl derer, die versuchen, den Zentralirak zu verlassen, auf 4,5 Millionen Menschen. Und nun drängen auch aus dem Westen, aus Syrien, Hunderttausende in das kleine Land südlich der Türkei. Derzeit sollen es 240 000 sein, die Autonomieregierung in Erbil hält die Grenzen, die sie kontrollieren kann, offen. 240 000, das sind zu viele für ein kleines Land mit fünf Millionen Einwohnern, erst recht für eine bayerische Landeskirche. Und Thomas Prieto Peral müsste vor dieser Herkulesaufgabe eigentlich zusammenbrechen. Er tut es nicht.

Das liegt auch an den starken Partnern, die er durch die Landeskirche unterstützt. Da ist zum einen das Traumahilfezentrum von Salah Ahmad, mit dem Prieto Peral seit 2010 eng zusammenarbeitet. Und da ist Capni, die mächtige christliche Hilfsorganisation im Nordirak. Vor einer Woche hat die Organisation mit Sitz im kurdischen Dohuk 20-jähriges Bestehen gefeiert. Prieto Peral erhielt beim Festakt mehrere Auszeichnungen für seinen persönlichen und finanziellen Einsatz. Etwa 250.000 Euro fließen aus der Münchner Zentrale in ganz konkrete Projekte der Organisation, über die Prieto Peral mit seinem Projektpartner, dem Capni-Geschäftsführer Sargon AlQas, und der bayerischen Landeskirche hart diskutiert: "Wir wollen keine milden Gaben vergeben", sagt er. Es geht ihm um Hilfe zur Selbsthilfe. Doch manchmal muss es auch ein bisschen mehr sein.

Hawresk ist so ein Dorf, wo sich die bayerische und die württembergische Landeskirche besonders engagiert haben. Die Truppen Saddam Husseins hatten es einst dem Erdboden gleichgemacht. 2006 begann der Wiederaufbau mithilfe von Capni und den evangelischen Kirchen. Aus den Trümmern entstanden 115 Häuser, 435 Christen leben nun wieder hier. Sie alle waren auf der Flucht, viele von ihnen angeblich als Folge einer Rede von Papst Benedikt XVI. am 12. September 2006 in Regensburg. Ein missverständliches Zitat des byzantinischen Kaisers Manuel III. Palaiologos soll in weiten Teilen des Irak gewalttätige Ausschreitungen gegen Christen ausgelöst haben. Einer der Flüchtlinge in Hawresk ist Ghassan Kasho Osana.

Der kleine kräftige Mann mit dem schwarzen Zwirbelbart steht in seinem Gewächshaus am Rande des Dorfs und lächelt. "Sehen Sie", ruft er und deutet auf die langen Reihen Reben unter der Plastikplane. "Roter Wein!" Und dort drüben: Oliven-, Orangen- und Feigenbäumchen, es wächst und gedeiht in der kleinen Plantage. "Thank you, Capni", hat er auf ein Schild geschrieben. Capni hat dem Mann, der 2006 aus Bagdad fliehen musste, die Pflanzen geschenkt, damit er seine Familie versorgen kann. Längst produziert er so viel, dass er einen Teil der Früchte der neuen Kirche im Dorf spendet, der Rest wird verkauft.

Kinder im kurdischen Flüchtlingslager Domiz. (Foto: AFP)

Die Kirche wurde von der evangelisch-lutherischen Landeskirche gemeinsam mit der württembergischen finanziert. 160 000 Euro hat das kleine Gotteshaus gekostet, seit Kurzem ist es fertig. Die Kirche ist in Brauntönen gehalten, wie die Erde hier, die geteilten Glasfenster haben typische kurdische Farben. Hinter dem Dorf verliert sich die Landschaft in Hügeln, die sich zum Horizont als sanfte Dünung ziehen. In der Ferne schimmert der Tigris, das biblische Ninive ist nah, gefährlich nah: In Mosul, der nördlichsten Stadt Zentraliraks, herrscht die Terrororganisation al-Qaida.

"Es geht hier nicht um ein Machtsymbol", sagt Prieto Peral. Die kleine Kirche soll den Menschen einen Halt geben in unsicheren Zeiten. Natürlich lässt er Kirchen bauen, keine Moscheen. Kirchen werden seit Jahren im Irak niedergebrannt, der Hass auf alles, was anders ist, sitzt tief im Nahen Osten. Dabei ist das Land zwischen Euphrat und Tigris die Region, in der die Wiegen der Buchreligionen lagen.

Alkosh liegt an der Straße zwischen Dohuk und Mosul. Ein karger Gebirgszug und die Ninive-Ebene trennen die beiden verfeindeten Städte. In Alkosh sind die Religionen jedoch seltsam vereint. Dort liegt die Geburtsstätte des fast vergessenen Propheten Nahum. Die kleine Delegation von Thomas Prieto Peral hat das Städtchen am Hang des Berges besucht. Es gibt dort eine Kirchenruine, darin Inschriften auf Hebräisch. Es ist ein verlassener Ort, weder die Christen in Kurdistan, noch die Muslime weiter südlich lieben den Propheten sonderlich. Er hat den Untergang Ninives prophezeit. Der Stadt, die heute Mosul heißt.

Alkosh ist vielleicht das Symbol eines Missverständnisses. Seit Jahrhunderten bekriegen sich die Menschen wegen ihrer Religion, es geht um Missgunst, Rassismus, Vorurteile aller Art. Mit all dem muss Pfarrer Prieto Peral klarkommen. Notfalls legt er sich sogar mit den Kirchenfürsten in der Region an. In einem Dorf wenige Kilometer südlich sind wegen der evangelischen Delegation aus Süddeutschland Geistliche aus dem ganzen Irak angereist - die einen in prachtvollem Gewand, einige im Pulli. Sie vertreten eine Diaspora, das wissen diese Männer.

Im Irak sollen es vielleicht noch 200.000 Christen sein, der Rest ist längst geflohen. Nach Europa, in die USA, nach Australien. Die Bischöfe fordern Hilfe von außen, Geld aus Europa. "Danke für all die Arbeit", sagt einer von ihnen zu Prieto Peral. "Aber bleib jetzt nicht in der Mitte stehen." Das berührt ihn, aber ärgert ihn auch. "Ich finde es nicht gut, wenn die Christen hier nur jammern. Sie sollen auch Aufgaben übernehmen", sagt Prieto Peral. "Aber das tun sie oft nicht."

Die Verzweiflung ins Gesicht geschrieben: Flüchtlinge in Domiz. (Foto: Credit: UNHCR/B. Sokol)

Ein Hinterzimmer in Dohuk. Sieben Christen aus Syrien sitzen an einer langen Tafel. Sie erzählen, dass es ihnen unter dem Assad-Regime eigentlich gut ging, weshalb sie jetzt dafür büßen müssten. Das erzählen ein ehemaliger Geheimdienstmitarbeiter der Luftwaffe, ein Elektroingenieur, der mit seiner Frau auf der Flucht ist, weil er für das syrische Innenministerium arbeiten musste. Ein Zahnarzt, der sagt, er wurde verfolgt, weil er auch Assad-Leute behandelte. Sie alle wohnen nicht im Flüchtlingslager, sondern in Häusern, die von Capni aufgebaut wurden, oder sie leben bei Freunden oder Verwandten in Kurdistan.

Prieto Peral steht nach dem Gespräch auf der Terrasse des Hauses, saugt die milde Novemberluft ein. "Wer Not hat, dem wird geholfen", sagt er. So ähnlich steht das wohl auch im Koran und im Talmud. Er kann helfen, kann dem Auswärtigen Amt Namen nennen von Menschen, die dann vielleicht nach Deutschland ausreisen dürfen, um dort ein neues Leben anzufangen. Er will aber vor allem auch denen helfen, die in ihrer Heimat bleiben. Und dann sind da die syrischen Kurden, im Flüchtlingscamp vor der Stadt. Es sind so verflucht viele. Die Aufgabe, sagt Prieto Peral, wird immer größer. "Und sie lässt das Vorhandene klein aussehen."

Im zentralirakischen Mosul sind am vergangenen Sonntag bei einer Bombenserie zwölf Menschen verletzt worden. Auch das autonome Kurdistan bleibt vom Terror nicht verschont. Doch Thomas Prieto Peral macht weiter. Er glaubt an etwas.

© SZ vom 23.11.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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