Fachärzte:Selbst Koma-Patienten sollen zum Arzt fahren

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Fachärzte verweigern den Besuch von Schwerkranken in Bayerns Pflegeheimen - gut 20 Landkreise sind betroffen.

Dietrich Mittler

Sebastian Zorn, stellvertretender Stationsleiter im Augsburger AWO-Sozialzentrum Hammerschmiede, musste den Brief mehrmals lesen, bis er es wirklich glaubte: Ein Facharzt kündigte darin an, die neue Honorarsituation erlaube es ihm nicht länger, Hausbesuche bei den Patienten der Intensivpflege zu machen.

(Foto: Foto: ddp)

Wenn einer der 27 Wachkoma-Patienten seine Hilfe brauche, dann müsse der vom kommenden Quartal an mit einem Krankentransportwagen zur Praxis und zurück gebracht werden.

"Fünf bis sechs dieser Menschen hängen am Beatmungsgerät", sagt Zorn - fassungslos.

Aus der Praxis weiß der 26-jährige Pfleger, was es für einen Koma-Patienten bei akuten Notfällen bedeutet, auf eine Trage gehievt und quer durch die Stadt gefahren zu werden. "Ihre Muskeln spannen sich krampfartig an, und auf ihren Gesichtern ist die Panik abzulesen, die sie dann befällt." Ein bis zwei Tage dauere es, bis sich die Betroffenen wieder beruhigten.

Doch nicht nur den Augsburger Wachkoma-Patienten droht qualvoller Stress. Wie eine Umfrage der Wohlfahrtsverbände bei ihren Heimen ergab, erklärten quer über Bayern hinweg Fachärzte, es sei ihnen nicht mehr möglich, in Alten- und Pflegeheimen Hausbesuche als Kassenleistung anzubieten - so etwa in München, Würzburg, Schweinfurt, Regensburg oder Kulmbach.

"Patienten als Geisel"

Für den Vorsitzenden der bayerischen Arbeiterwohlfahrt, Thomas Beyer, ist das schlicht ein Skandal. "Wir Wohlfahrtsverbände wissen aus eigener Erfahrung, wie hart die Verhandlungen mit den Kassen sind, aber der Kampf darf nicht auf dem Rücken der Schwächsten ausgetragen werden." Nicht nur Beyer, sondern auch die Vorsitzenden der anderen bayerischen Wohlfahrtsverbände fragen sich deshalb: "Wo bleibt da das ärztliche Ethos?"

Wie aus einer Studie aus dem Jahre 2005 hervorgeht, ist die ärztliche Versorgung in Alten- und Pflegeheimen ohnehin seit Jahren problematisch. "Die Betreuung durch Urologen und Orthopäden ist unzureichend", heißt es da, die Versorgung durch Frauen-, Augen- und HNO-Ärzte fehle "fast völlig". Von Neurologen und Psychiatern würden nur etwa ein Drittel der Heimbewohner erreicht - und das angesichts der steigenden Zahl an dementen alten Menschen.

Noch läuft die fachärztliche Betreuung in den Heimen so recht und schlecht wie früher, doch Christa Prinzessin von Thurn und Taxis, die Präsidentin des Bayerischen Roten Kreuzes (BRK), kündigte am Donnerstag an: "Wir werden nicht tatenlos abwarten, bis die Ärzte ihre Drohungen umsetzen und gar nicht mehr in die Heime kommen", sagte sie. "Die Mediziner nehmen unsere Pflegebedürftigen quasi in Geiselhaft", sagte sie.

Ihre Rede wurde jedoch plötzlich unterbrochen: Die Tür des Konferenzraumes öffnete sich und Axel Munte, der Chef der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns (KVB), trat ein. "Ich bin zwar nicht eingeladen, aber wenn man über uns Ärzte redet, sollten wir auch anwesend sein", erklärte er. "Wir sprechen hier nicht über die Ärzte und ihre Probleme, sondern über die Bewohner unserer Heime", konterte AWO-Chef Thomas Beyer.

Munte durfte gleichwohl bleiben und hörte stumm zu, was Beyer aus den Briefen der Fachärzte zitierte: "Als Fachärzte sind wir nur in Notfällen bei nicht Transportfähigen zu Hausbesuchen verpflichtet." - "Sollten Sie eine weitere urologisch-fachärztliche Betreuung Ihrer Bewohner in Form routinemäßiger Hausbesuche durch uns wünschen, werden wir Ihren Bewohnern diese Besuchstätigkeit in Rechnung stellen. Eine Musterrechnung liegt bei."

Unterlassene Hilfeleistung

"Der Protest der Ärzte für eine transparente und angemessene Vergütung ihrer Leistungen ist berechtigt und legitim", betonte Munte nach der Pressekonferenz der Wohlfahrtsverbände. Es gebe zahlreiche Facharztpraxen, denen durch die Honorarreform tatsächlich Umsatzeinbrüche in Höhe von 20 Prozent und mehr drohten.

Rechtswidrige Protestmaßnahmen seiner Kollegen, die Patienten gefährden, werde er als KVB-Vorsitzender aber nicht dulden. "Melden Sie uns umgehend Fälle von unterlassener Hilfeleistung", appellierte er an die Heimträger.

Für Dominik Schirmer, der bei Tarifverhandlungen als Verdi-Funktionär auch die Interessen der Pflegekräfte vertritt, ist die Ankündigung der Fachärzte, Hausbesuche in Pflegeheimen künftig zu unterlassen, ein Tabubruch: "Für mich wird auf diese Weise nicht nur schwer gegen die moralischen Anforderungen der ärztlichen Tätigkeit verstoßen, ich sehe hier auch eine Kampfgrenze der Niedergelassenen überschritten, die ich als unterlassene Hilfeleistung bezeichne."

Thomas Scharmann, der Vorsitzende der Gemeinschaft Fachärztlicher Berufsverbände in Bayern, rief seine Kollegen unterdessen auf, am 17. Februar ihre Facharztpraxen zu schließen und an einem " Tag der Fortbildung und der Information" teilzunehmen. "Die Patienten, die unsere Verbündeten sind, wissen, dass wir eine vernünftige medizinische Versorgung für den Preis eines Haarschnittes nicht mehr aufrechthalten können", erklärte er.

Die im Augsburger Verein Mi-Nerv-A zusammengeschlossenen Nervenärzte, Neurologen und Psychiater wollen vom 16. bis 20. Februar ihre Praxen schließen. Von Aktionen gegen schwerstpflegebedürftige Heimpatienten distanzieren sie sich ausdrücklich.

© SZ vom 06.02.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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