VW Golf IV:Ein Golf ist ein Golf und bleibt ein Golf

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Volkswagen setzt auf Evolution statt Revolution und macht den neuen Golf dabei noch preisgünstiger

(SZ vom 23.08.1997) Große Firmen sind wie Dinosaurier - sie stellen eine riesige Masse dar, die von einem kleinen Köpfchen dirigiert wird, und sie benötigen permanent große Mengen an Energie, um die vielen kleinen Körperzellen am Leben zu erhalten. Auf eine Autofirma übertragen bedeutet dies: Hundertausende von Menschen produzieren weltweit Fahrzeuge, die sich einige wenige Designer und Techniker nach den Vorgaben des Marketings und der Controller ausgedacht haben. Und von den zu Blech mutierten Resultaten müssen dann riesige Mengen verkauft werden, damit alle Beteiligten ihren Lohn und die Aktionäre ihre Ausschüttungen bekommen.

Der erste Auftritt des Flaggschiffs

Ein Kreislauf, der besonders dann, wenn ein Modellwechsel ansteht, zu einem erhöhten Adrenalinausstoß aller Beteiligten führt - der in Wolfsburg immer dann neue Höhen erreicht, wenn es gilt, einen neuen Golf zu konzipieren und in den Markt einzuführen. Nicht daß bei Ferdinand Piëch und seinen Kollegen nun die Nerven bloß liegen - schließlich hat man nach drei erfolgreich etablierten Golf-Generationen schon Routine, dennoch ist der erste öffentliche Auftritt eines neuen Flaggschiffs der Event, der die Meinung des vielzitierten Mannes von der Straße entscheidend prägt.

Nun ist der Geschmack der breiten Masse keineswegs so schrill, wie es die bunten Jogginghosen und die blau-weißen Plastiktreter vieler abendlicher Spaziergänger verheißen. "Je mehr Fahrzeuge von einem Typ gebaut werden, umso konservativer muß es werden", erkannte bereits der verstorbene Design-Guru Nuccio Bertone: "Ein Spider muß rot und ausgefallen sein - eine Limousine aber dezent und schwarz. " So gesehen mußte die vierte Golf-Generation so werden, wie sie wurde - eine behutsame Evolution eines zum Klassiker gewordenen Themas, von dem Millionen von Menschen eine klare Vorstellung haben: hohe Praktikabilität und Zuverlässigkeit, viel Understatement, vernünftige Preise und ein hoher Wiederverkaufswert.

Natürlich entdeckt man im Laufe der Jahre an jedem Fahrzeug Schwächen - die sich beim alten Golf größtenteils in der Innengröße und der Motorenpalette artikulierte. Deshalb hat der Neue in jeder Hinsicht zugelegt, äußerlich wie innerlich: So wurde der Radstand auf nunmehr 2,51 Meter (vorher 39 Millimeter weniger) vergrößert, während bei der Länge 4,15 Meter (plus 13,1 Zentimeter) und bei der Breite 1,73 Meter (plus drei Zentimeter) zu Buche stehen. Daraus resultieren ein etwas größerer Innenraum und ein 330 Liter großer Kofferraum.

Mehr Ellenbogenfreiheit denn je

Auch wenn es die Vertreter der reinen Lehre vom 3-Liter-Auto nicht gerne hören: Die Menschheit lechzt nach Luxus. Sie verlangt nach elektrischen Fensterhebern genauso wie nach Leder, sie will teure Stereoanlagen mit CD-Wechslern und sie steht kurz davor, jeden Hersteller zu beschimpfen, der die Klimaanlage noch nicht serienmäßig liefern mag. Eine Entwicklung, an der natürlich auch VW nicht vorbeigehen darf - und so kann die verwöhnte Kundschaft ihren neuen Golf in ein (entsprechend teures) Luxusgefährt verwandeln, bei dem nicht nur die erwähnten Features lieferbar sind, sondern auch ein in das Radio installiertes satellitengestütztes Navigationssystem als Pfadfinder dient - und ein in die Frontscheibe integrierter Regensensor die Scheibenwischer entsprechend der Regenstärke betätigt.

Nun wäre es völlig falsch zu glauben, daß der Golf IV ein einziges großes Aufpreispaket darstellt - Ferdinand Piëch: "Der neue Golf setzt auch in der Serienausstattung Maßstäbe. " So werden alle Varianten unter anderem mit zwei Fullsize-Airbags, Seitenairbags, ABS, Servolenkung, Staub- und Pollenfilter und einem richtigen Ersatzrad ausgeliefert.

Natürlich werden die Interessenten auch die Qual der Wahl unter zusätzlichen Ausstattungsvarianten haben, von denen VW drei in verschiedenen Wertigkeiten vorgesehen hat: Trendline, Comfortline und Highline.

Wer eine derart breite Käuferschicht ansprechen will, muß aber auch etliche Motorvarianten im Angebot haben - so startet der Wagen mit fünf Benzin- und drei Dieselvarianten:

1,4 Liter mit vier Zylindern und Vierventiltechnik, 55 kW (75 PS), 171 km/h Höchstgeschwindigkeit, 6,4 Liter Super im Drittelmix, Preis: 25 700 Mark.

1,6 Liter, Zweiventiltechnik, 74 kW (100 PS), 188 km/h, 7,6 Liter im Drittelmix, Preis: 27 900 Mark.

1,8 Liter Highline, Fünfventiltechnik, 92 kW (125 PS), 201 km/h, 7,8 Liter im Drittelmix, Preis: 35 800 Mark.

1,8 Liter GTI, Fünfventiler mit Turbolader, 110 kW (150 PS), 216 km/h, 7,8 Liter im Drittelmix, Preis: 39 900 Mark.

2,3 Liter Highline mit Fünfzylindermotor, 110 kW (150 PS), 216 km/h, 7,8 Liter im Drittelmix, Preis: 37 700 Mark.

1,9 Liter Diesel-Vierzylinder, 50 kW (68 PS), 160 km/h, 5,1 Liter im Drittelmix, Preis: 27 400 Mark.

1,9 Liter Diesel mit Turbolader, 66 kW (90 PS), 180 km/h, 4,9 Liter im Drittelmix, Preis: 30 300 Mark.

1,9 Liter Diesel mit Direkteinspritzung und Turbolader, 81 kW (110 PS), 193 km/h, 4,9 Liter im Drittelmix, Preis: 32 200 Mark.

Wem diese Motorpalette noch nicht ausreicht, der kann von 1998 an zu zwei noch temperamentvolleren Varianten greifen - einem 2,6 Liter großen V6-Motor mit mit 132 kW (180 PS) Leistung, der vorerst nur als syncro-Version kommt, und einem 95 kW (130 PS) starken 2,0-Liter-Diesel, der die 200 km/h-Marke klar überschreiten dürfte.

Harmlos und vergebend

Nach den ersten Kilometern muß man den Wolfsburgern konstatieren, daß sie die hohe Kunst der Fahrwerksabstimmung für Jedermann und Jederfrau noch nicht verlernt haben: Der Golf IV zieht, mit dem gewünschten leichten Untersteuern, ruhig und souverän seine Bahnen, wozu auch die hohe Torsionssteifigkeit der neuen, voll verzinkten Karosserie (zwölf Jahre Garantie gegen Durchrostung!) ihren Beitrag leisten dürfte.

Mit dem größeren Raumgefühl, dem größeren Kofferraum und einer ungewöhnlich vollständigen Basisausstattung haben die Entwickler eines der perfektesten Großseriengefährte weiter perfektioniert. Da es klar war, daß es sich Ferdinand Piëch nicht nehmen lassen würde, die Vorteile seiner Plattformstrategie in einen geldwerten Vorteil für die Kunden umzumünzen (das neue Basismodell ist 360 Mark - ausstattungsbereinigt sind es sogar 3000 Mark - billiger als sein Vorgänger), fällt es nicht schwer, auch dem vierten Golf Produktionszahlen in Millionenhöhe zu prophezeien. Zumal die neue Konstruktion auch deutlich besser zu reparieren ist, was sich in Kaskoklassen niederschlägt, die zwischen sieben und 13 Stufen niedriger als bei den Vorgängermodellen liegen.

Das Geheimnis dahinter ist einfach: Man nehme eine Prise Qualität, Wertstabilität und Zuverlässigkeit - mische sie mit einer Portion Understatement und füge, so man es sich leisten mag, einen Spritzer Luxus hinzu. Wenn man diese vom Käufer akzeptierte Mischung über 23 Jahre und knapp 18 Millionen Exemplare hinweg perfektioniert, dann bekommt der Dinosaurier sein Futter - und die Aktionäre ihre Dividenden.

Von Jürgen Lewandowski

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