Venedig:Wasser-Ballett

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Die ungewöhnliche Infrastruktur in Venedig verlangt nach strengen Regeln und intelligenter Logistik - wenn es um den Verkehr geht.

Renate Wolf-Götz

Venezia. Schon weit vor dem Ziel künden die Autobahnschilder die Lagunenstadt an, als wäre Venedig eine der großen Metropolen Italiens. Dabei wohnen nur knapp 62.000 Menschen in der Serenissima, halb so viele wie noch vor 60 Jahren. Stadtplaner Roberto D'Agostino sieht das allerdings gelassen: "Venedig ist eine Città Allargata, eine erweiterte Stadt mit historischem Kern im Wasser." Denn zusammen mit den vor gut 80 Jahren eingemeindeten Industrie- und Petrochemie-Vororten Mestre und Marghera erreicht die Stadt immerhin 270.000 Einwohner, eine Großstadt also.

Manchmal ist Venedig nur aus dieser Perspektive eine Idylle. (Foto: N/A)

An dem ernüchternden Industrie-Moloch vor den Toren des Centro Storico, der historischen Altstadt, kommt niemand vorbei, der sich mit dem Auto der auf Pfählen gebauten Siedlung nähert. Vom Dunst der Raffinerien begleitet, rollt die Kolonne der rund 30.000 Besucher täglich Richtung Ponte della Libertà, die das Festland mit der Lagune verbindet.

Hunderte Boote durchpflügen jeden Tag den Canal Grande

Am Ende der dreieinhalb Kilometer langen Überführung, wo an der Piazzale Roma der Asphalt endet und das Wasser mit dem Canal Grande beginnt, scheint der Mythos Venedig noch immer weit. Stattdessen fällt der Blick auf Parkhäuser mit wartenden Autoschlangen davor; in der Mitte des Platzes kommen und fahren die Busse im Minutentakt.

Mehr als 50.000 Pendler und Studenten aus den umliegenden Orten steigen an dem betonierten Drehkreuz, das vor gut 80 Jahren auf den Lagunenboden gestampft wurde, vom Überland- in den Wasserbus um - was täglich von den Mitarbeitern der städtischen Verkehrsgesellschaft Azienda del Consorzio Trasporti Veneziano (ACTV) nach logistischer Höchstleistung verlangt.

Schließlich muss der Wechsel von der Straße aufs Wasser reibungslos funktionieren; und ausgeglichen werden müssen auch die unterschiedlichen Geschwindigkeiten in beiden Welten. Denn auf dem vier Kilometer langen Canal Grande, den rund um die Uhr Hunderte Boote durchpflügen, muss sich schon deshalb alles vergleichsweise langsam bewegen, damit die Wellen die empfindliche Bausubstanz der Paläste nicht mehr als unausweichlich belasten.

Verkehrskollaps in Venedig?
:In Kanälen ist zu viel los

Motorboote verursachen den "Moto Ondoso" - ein schädlichen Wellenschlag, der den alten Palazzi nicht allzu gut bekommt.

Binnen weniger Minuten ist das Vaporetto der Linie 1 bis auf den letzten Stehplatz besetzt. Der Schaffner macht den Wasserbus startklar, holt Gangway und Festmacher ein, dann nimmt das Boot mit elf km/h Kurs auf die Stazione Santa Lucia, dem Kopfbahnhof der Altstadt.

Manchmal ist ein Vaporetto binnen weniger Minuten besetzt bis auf den letzten Platz. (Foto: Foto:)

Dann, vor der Rialto-Brücke, herrscht Chaos. Gondeln stehen quer, Transportboote der Blumen-, Fisch- und Gemüsehändler bringen die Ware zur Markthalle auf dem historischen Handelsplatz, während ein Arbeitsboot morsche Begrenzungspfähle per Kran aus dem Wasser hebt, um sie gegen neue zu ersetzen.

Dazwischen überqueren Traghettos den Kanal; die auch als Gondeln der Armen bezeichneten Fährkähne sind längst nicht so elegant wie die für Touristen aufgemotzten Pendants. Doch sie bieten neben vier Brücken, die den Canal Grande überqueren, ein kurzes und preiswertes Gondelvergnügen.

Keine Frage - die Gondeln sind das Herzstück venezianischer Mobilität und gehören zu dieser Stadt wie das Wappentier, der geflügelte Löwe, am Markusplatz. Die schwarzlackierten, asymmetrischen Barken sind traditionell genau 10,15 Meter lang; der sechszackige Bugkamm steht für die historischen Stadtteile San Marco, Castello, Santa Croce, Cannaregio, San Polo und Dorsoduro. Die einzelne Zacke, die zum Heck zeigt, versinnbildlicht die der Stadt gegenüberliegende Insel Giudecca. Als Hoheitszeichen steht die Mütze des Dogen an der Spitze des Ferro genannten Bugschmucks.

"Die Gondeln werden immer Attraktion bleiben"

Ein Privileg also, eine der Gondeln durch die Kanäle des Centro Storico zu steuern? Theoretisch könne jeder Gondoliere werden, meint Roberto Luppi, der Vizepräsident der Gondolieri-Vereinigung. Voraussetzung seien die praktische Ruderprüfung und 150 Stunden Theorie. 404 gibt es davon noch in Venedig, meist vom Vater auf den Sohn übertragen. Oder man behält sie - wie Angelo, der selbst keine Gondel mehr hat, aber immer noch stolz darauf ist: "Das ist eine Art Ehrensache."

Tief in ihrer Ehre gekränkt fühlten sich die Gondolieri, als vor mehr als 80 Jahren motorisierter Schiffsverkehr auf den Kanälen zugelassen wurde; die Männer fürchteten um ihr Transportprivileg. Dieser Ärger hat sich aber längst gelegt. Die derzeit rund 200 Vaporetti, die auf dem Canal Grande täglich unterwegs sind und darüber hinaus die umliegenden Inseln ansteuern, sind keineswegs in Konkurrenz zu den Gondeln, betont der venezianische Tourismusbeauftragte Matteo Tassan. "Die Gondeln werden immer Attraktion bleiben. Aber ohne die Wasserbusse, die ohnehin häufig überfüllt sind, wären die ständig wachsenden Probleme des öffentlichen Nahverkehrs unter den besonderen Bedingungen unserer Stadt gar nicht mehr zu bewältigen."

Doch mit den derzeit wenigstens 80.000 Besuchern und Pendlern pro Tag geht ein anderes Problem einher. Vor zehn Jahren bereits hatte eine Unesco-Studie den schlechten Zustand der kanalseitigen Palastmauern bemängelt. Hauptursache seien die von Motorbooten verursachten Wellen - der Moto Ondoso.

Motorboot-Machos brettern durch die Kanäle

Die heftigsten Wellen verbreiten demnach die rund 100 privaten Motorboote, die mitunter äußerst rasant durchstarten, wenn ihre Fahrgäste aus den Hotelpalästen entlang des Canal Grande eilig zum stadtnahen Flughafen Marco Polo müssen. Wiederholt haben die Gondelfahrer schon gegen die Motorboot-Machos protestiert, die durch die Känale brettern und mit ihren hochtourigen Schrauben zusätzlich das Wasser mit Sauerstoff anreichern, was die alten Gemäuer noch mehr belastet.

Zum schädlichen Wellenschlag trägt auch der Lieferverkehr bei. Mehr als 500 Frachtboote versorgen die Stadt täglich mit rund 850 Tonnen an Gütern - von Lebensmitteln bis zum Baumaterial.

Bevor Stadtplaner Fabio Carrera vor sechs Jahren ein Konzept zur Reduzierung des Frachtverkehrs entwickelte und seither die Boote am zentralen Warenlager auf der Parkplatzinsel Tronchetto gezielt beladen werden, schipperten täglich noch gut 3000 oftmals halbleere Frachtschiffe über die Kanäle.

Müllabfuhr, Lieferverkehr, Notdienste, Touristen: Alle wollen und müssen aufs Wasser

Und natürlich kommt auch die Müllabfuhr übers Wasser: Jeden Morgen sammeln Lastbarken Tonnen von Abfällen Sack für Sack an vorgegebenen Sammelplätzen ein. Streng wacht die Verkehrspolizei von ihren Booten aus auf Einhaltung der Regeln, um die Wasserturbulenzen so gering wie möglich zu halten. Nur dann, wenn Feuerwehr, Arzt oder Sanitäter zu Hilfe eilen müssen, ist der Moto Ondoso kein Thema. Und bei den schwimmenden Prozessionen auf die Friedhofsinsel San Michele spielt Geschwindigkeit ohnehin keine Rolle mehr.

Wenn eine Stadt wie Venedig im und vom Wasser lebt, muss sie sich auch davor fürchten - das allmähliche Absinken des Lagunenbodens und der gleichzeitige Anstieg des Meeresspiegels führen immer häufiger zu schweren Überflutungen. Spätestens 2014 sollen 78 auf dem Meeresboden verankerten Flutklappen im Ernstfall die Schotten dichtmachen; dann werden nur noch Schleusen die Stadt in der Lagune mit der Außenwelt verbinden.

© SZ vom 3.11.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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