Porsche 911 Cabriolet:Das Maß aller Dinge

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Trotz Ungereimtheiten zählt das Cabrio zu den Klassikern

(SZ vom 02.04.1994) Die Entscheidung pro oder contra Cabriolet hat viel zu tun mit Emotionen, Erinnerungen, Selbstdarstellung, Spontaneität und dem Wetterbericht. Speziell beim 911 wird die Wahl zur Qual, denn schon das Coupé ist ein sehr homogenes Auto mit überzeugender Optik und starken inneren Werten. Das Cabrio erinnert dagegen - vor allem in offenem Zustand - an den Käfer: Sein Faltdach stapelt sich ungeniert bis auf Höhe des Innenspiegels, und die unvermeidliche Persenning führt den Luxus des Elektroverdecks ad absurdum, denn sie will aus dem Kofferraum hervorgefischt und in umständlicher Handarbeit aufgeknüpft werden. Gerade der neue Neunelfer mit seiner perfekt überarbeiteten Karosserie hätte eigentlich eine elegantere Lösung verdient (mit Abdeckklappe à la Saab, BWM, Audi oder Mercedes), aber der Vertrieb stellte sich quer, weil die für den US-Markt wohl besonders wichtigen hinteren Notsitze dem Verdeckkasten zum Opfer gefallen wären. Natürlich ist das Carrera-Cabrio auch mit dem Käfer-Dach ein reizvolles Auto. Nur das aufpreispflichtige Windschott (490 Mark) stört die optische Harmonie. Das Fangnetz ist zwar durchaus funktionell, aber Menschen mit derart schutzbedürftigen Frisuren sollten sich vielleicht doch lieber ein Coupé mit Schiebedach anschaffen. Ansonsten widerlegt der offene Elfer die meisten Cabriovorurteile, denn sein Dach ist absolut dicht und zugfrei, seine Heizung ist warm und die Verarbeitung hat Langzeitqualität.

Auf der Autobahn hört der Spaß allerdings recht bald auf. Die Stoffkapuze verursacht trotz angeblich verbesserter Dichtungen und erhöhter Paßgenauigkeit derart brutale Windgeräusche, daß man auf das Radio mit seinen acht Lautsprechern verzichten kann. Von 160 km/h an aufwärts hilft nur noch Brüllen, und wer Dauergeschwindigkeiten jenseits von 200 km/h nachweisen kann, bekommt Oropax auf Krankenschein.

Die wahre Domäne des Fetzendach- Porsche ist die gemütliche Überlandpartie mit gelegentlichen Sprinteinlagen. Wissen Sie eigentlich noch, wie eine frisch gemähte Wiese riecht? Kennen Sie den Duft eines Laubwaldes im Frühjahr, das Aroma eines geschäftigen Sägewerks, die Gewürze eines Stadtmarkts in der Mittagssonne? Der 911 vermittelt diese und andere Stimulanzen vor der einmaligen akustischen Kulisse seines 200 kW (272 PS) starken 3,6-Liter-Sechszylinder-Boxermotors, der die Straße - je nach Gaspedalstellung - mit einem Klangteppich von Vivaldi bis Metallica überzieht. Das heisere Leerlaufrasseln ist ebenso unverwechselbar wie das kreischende Ansauggeräusch und das donnernde Vollastdröhnen. Wo gehobelt wird, fallen auch Späne. Will sagen: Das 911 Cabriolet beschleunigt in 5,6 Sekunden von Null auf 100 km/h und ist 270 km/h schnell. Der Testwagen genehmigte sich über eine Distanz von 1600 km im Schnitt 15,9 Liter bleifreiem Super auf 100 Kilometer.

Wenig Spaß macht der Open-air-Elfer im Stadtverkehr. Bei geöffnetem Verdeck reichen manchmal schon zwei Ampelphasen für eine mittelprächtige Smogvergiftung, und bei geschlossenem Dach nerven die diffuse Plastikheckscheibe und die sehr zufällige Sicht nach schräg hinten. Außerdem stören die schwergängige, wenig progressive Kupplung und der zu lang übersetzte erste Gang. Aber das sind Nebensächlichkeiten, die von den Stärken des Elfers an den Rand der Bedeutungslosigkeit gedrängt werden. Als da sind: die erdverbundene Straßenlage, der klettenähnliche Grip, die ehrlich-direkte Lenkung, der unvergleichliche Motor und diese phänomenalen Bremsen, die der Lebensversicherung eigentlich einen Sonderrabatt wert sein müßten.

Unter dem Strich ist der neue 911 Carrera wieder das Maß aller Dinge, der Platzhirsch unter den Sportwagen und das gemeinsame Idol von Vater und Sohn. Trotz einiger Ungereimtheiten hat das 142 620 Mark teure Cabriolet seinen ganz speziellen Reiz, den man in dieser Jahreszeit besonders gut erfahren kann. Wir raten daher zuzugreifen - ehe wieder ein Politiker auf die Idee kommt, den Benzinpreis weiter zu erhöhen und das Tempolimit zu halbieren.

Von Georg Kacher

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