Mercedes-Benz S 350 TD / S 600:Wo sich die Geister scheiden

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Und mehr als 200 000 S-Klasse-Modelle sind schon verkauft

(SZ vom 09.07.1994) An wenig Automodellen der Vergangenheit haben sich die Geister dermaßen entzweit, wie an der neuen S-Klasse, die im März 1991 in Genf ihre Premiere feierte - und von allen, die dem individualen Verkehr der Zukunft ein anderes Aussehen geben möchten, als nackte Provokation empfunden wurde. Nun ist die Form und schiere Größe dieser Baureihe ja nicht grundlos entstanden, dahinter steckte der Wunsch des ältesten Automobilbauers der Welt, der immer lästiger werdenden Konkurrenz nachdrücklich zu beweisen, wo der Barthel den Most holt - oder kurz gesagt: zu zeigen, wo das High- tech-Monopol noch immer seine Heimat hat.

Kein Bedarf für Turbo-Diesel?

So wurde die S-Klasse während der Entwicklung immer größer, breiter und stärker - letztlich wollte man bereits mit den Achtzylindern dem BMW-Zwölfzylinder Paroli bieten, und der MB-Zwölfzylinder sollte eine Klasse für sich darstellen. Und den in den USA lieferbaren Turbo-Diesel wollte man vor den ach so leistungshungrigen Europäern verstecken - angeblich gab es in unseren Breitengraden dafür keinen Bedarf.

Nach einigen Kilometern im S 350 Turbodiesel und (als Gegenpol gewissermaßen) auch im S 600 darf man die damalige Entscheidung, den Diesel vom deutschen Käufer fernzuhalten, als grandiosen Fehler betrachten: Nicht weniger als 26 Prozent aller Auftragseingänge beziehen sich bereits auf den Selbstzünder - und wenn man diese klassische Langstrecken-Limousine dann mit Verbrauchswerten, die sich je nach Fahrweise zwischen elf und 14 Litern Diesel auf 100 Kilometer einpendeln, von München ins Ruhrgebiet, von da aus weiter nach Hamburg, und über Wolfsburg wieder zurück in die bayerische Landeshauptstadt gefahren hat, wundert man sich, warum der Diesel- Anteil bei der S-Klasse nicht noch höher liegt. Die 110 kW oder 150 Pferdestärken des 3,5-Liter-Sechszylinders reichen für knapp 190 km/h Höchstgeschwindigkeit - und damit gehört man allemal zu den Schnelleren -, und die Beschleunigung in 12,9 Sekunden von Null auf 100 km/h genügt ebenfalls zum völlig problemlosen Mitschwimmen. Und da der (hervorragend schallisolierte) Diesel bereits nach wenigen Sekunden wie ein Benzinmotor klingt, stört sich auch kein Ohr an dem vermeintlich unkultivierteren Aggregat.

Nun ist der Kaufpreis von 88 837,50 Mark für die Basisausstattung nicht gerade ein Geschenk - andererseits war ein Daimler a) noch nie billig und b) tröstet der hohe Wiederverkaufswert doch über manches hinweg. Dafür verwöhnt die S- Klasse mit Komfort im Übermaß - noch immer dürfte es keine bessere Langstrecken-Limousine geben, aus der man auch nach einer Zickzack-Fahrt durch die Republik derart entspannt entsteigt. Der Turbo-Diesel mag die aus vergangenen Zeiten verwöhnte Kundschaft bei der ersten Fahrt (was das Temperament betrifft) etwas enttäuschen - spätestens an der Tankstelle hingegen tritt der große Lerneffekt ein, wenn man wesentlich seltener wesentlich weniger bezahlen muß.

Aus einer anderen Welt

Ein völlig anderes Fahren vermittelt hingegen (zwangsläufig) der große Zwölfzylinder - mit 290 kW (394 PS) sind genügend Leistung und Drehmoment vorhanden, um jede Langstrecke ohne einen Hauch von Anstrengung zu überwinden. Die knapp dreimal höhere Leistung muß jedoch mit überdurchschnittlichen Verbrauchswerten bezahlt werden - die dem Käufer der 201 940 Mark teuren Limousine wohl weniger berühren, aber als stetige Mahnung die landläufige Beurteilung der S-Klasse beeinflussen. Unter 13 Liter bleifreiem Superbenzin kommt man nur mit Konzentration und Entsagung eines indischen Yogi's, auf der nach oben nahezu offenen Verbrauchsskala sind aber auch - bei völlig unsinnigen Beschleunigungs- und Verzögerungsorgien - bis zu 28 Liter 'machbar'. Wir benötigten im Schnitt zwischen 15 und 19 Litern - wobei wir gestehen, an dem Temperament (6,6 Sekunden von Null auf 100 Kilometer) durchaus Freude gehabt zu haben. Über diese Form der Freude hinaus überzeugte der S 600 jedoch vor allem mit einem Höchstmaß an Komfort, Fahr- und Laufruhe, das noch immer zu beeindrucken weiß.

Dennoch stellten wir uns am Ende der Fahrten die Frage, ob es denn wirklich so reichlich von allem sein muß - und ob die eigentlichen Qualitäten dieser Baureihe (Komfort, Sicherheit, Bauqualität, Wiederverkaufswert, Prestige) nicht auch bereits mit einem S 350 Turbodiesel mehr als ausreichend erfüllt werden.

Es mag Fahrzeuge geben, die handlicher sind, andere mögen in manchen Geschwindigkeitsbereichen noch leiser sein. Es gibt bestimmt auch Konkurrenzprodukte, deren Optik nicht so massiv wirkt, oder deren Innenraum noch nicht auf den Menschen von Morgen mit 210 Zentimeter Lebensgröße konzipiert ist - in der Summe der Dinge muß der S- Klasse jedoch bestätigt werden, daß sie noch immer zu der Spitzenklasse im Automobilbau gerechnet werden darf.

Und daß diese Überlegenheit auch jährlich für rund 50 000 Käufer der Grund ist, einen tiefen Griff in die Privat- oder Firmenschatulle zu tun - und einen Scheck für den Erwerb eines dieser Modelle auszufüllen.

Zusamenfassend kann gesagt werden, daß ein AUDI A8 mit seiner Aluminiumtechnik vielleicht Zukunftsweisender, und daß die neue Siebener-Baureihe agiler und sportlicher sein mag - daß die S- Klasse im Bereich Komfort und Langstreckentauglichkeit jedoch noch immer Maßstäbe setzt. Und so sind bis heute auch mehr als 200 000 Exemplare dieser Baureihe verkauft worden - 'die S-Klasse ist ein heimlicher Bestseller', sagt denn auch Helmut Werner, der Vorstandsvorsitzende des Unternehmens, 'und wir verdienen mit ihr gut Geld.'

Und so darf man davon ausgehen, daß diese Fahrzeugkategorie auch weiterhin in Untertürkheim gepflegt werden wird - schließlich gibt es weltweit einen steigenden Markt für diese Modelle, der viele Arbeiter beschäftigt - und damit letztlich auch das Geld für die Entwicklung der Vision A und des Swatch-Mobils in die Kassen spült.

Von Jürgen Lewandowski

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