Mercedes-Benz Actros:Der neue Stern am Lkw-Himmel

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Neue Motoren mit bis zu 571 PS Leistung, vier verschiedene Fahrerhäuser und reichlich Elektronik

(SZ vom 28.09.1996) Wenn Mercedes eine komplett neue Lkw-Generation vorstellt, hält die Transportbranche den Atem an. Auf der IAA lüftete der Weltmarktführer bei den schweren Lkw über 16 Tonnen Gesamtgewicht vor wenigen Tagen den Schleier über seinem neuen Hoffnungsträger für die von Absatzrückgang und ruinöser Rabattpolitik gebeutelte Nutzfahrzeug-Sparte.

Actros heißt das Zauberwort, mit dem Mercedes-Benz das Ruder wieder zu seinen Gunsten herumwerfen will. Hinter dem Kunstwort mit dem Flair griechischer Mythologie steht aber nicht nur eine von Grund auf neu aufgelegte Fahrzeugbaureihe, sondern auch der Schritt zu kostenoptimierter Fertigung und erweitertem Kundennutzen.

Wenn die neuen Actros-Lkw in den nächsten Wochen bei den ersten Kunden auf die Höfe rollen, geht eine lange Produktionsära zu Ende, die in durchaus an die des VW-Käfers erinnert - hier geht eine in ihrer Grundkonzeption bereits seit 1973 gebaute Fahrzeuggeneration in den überfälligen Ruhestand. Zwar hat Mercedes seine schweren Lkw bis zu einer nahezu perfekten Ausgereiftheit weiterentwickelt, doch die Konkurrenz hat dem Stern vor allem in den letzten Jahren in technischer Hinsicht den Rang abgelaufen. Unter dem Einsatz aller in diesen Jahren aufgestauter Innovationsfreudigkeit übernimmt der Actros jetzt die Spitzenposition unter den hochtechnisierten Lkw der neunziger Jahre ein, wobei der neue Schwerlastwagen mit teilweise völlig neuen technischen Lösungen aufwartet.

Mit ausgewachsenem Lebensraum

Der Reigen der Actros-Innovationen beginnt bei der Gestaltung des aerodynamisch optimierten Fahrerhauses. Für die neue Schwere Klasse werden vier unterschiedliche Fahrerhaustypen angeboten, die den unterschiedlichen Einsatzgebieten der Fahrzeuge Rechnung tragen sollen. Je nach Anforderungsprofil kann der Mercedes-Käufer zwischen einem normal hohen Fahrerhaus, einer Hochdachversion, einem verlängerten Fahrerhaus und dem Megaspace getauften Top-Modell unter den Lkw-Kabinen auswählen. Im Megaspace-Haus erwartet den künftigen Actros-Fahrer ein Lebensraum, der es durchaus mit einem komfortablen Single-Appartement aufnehmen kann. Durch die Höherlegung der Kabine entsteht in dem Großraumfahrerhaus ein völlig ebener Fußboden, durch den die Bewegungsfreiheit des Fahrers in den Ruhepausen drastisch verbessert wurde. Im Gegensatz zu dem alten Mercedes-Fahrerhaus, in dem man sich nicht immer perfekt bewegen konnte, bietet die neue Kabine überall Stehhöhe, selbst für ausgewachsene Fahrerstaturen. Ein Modulsystem von ausziehbaren Staukästen, die auf Bodenschienen angebracht sind, erlaubt sogar eine individuelle Innenraumgestaltung durch den Fahrer.

Mit Fernsehgerät und Mikrowelle

Die heute im Langstreckeneinsatz schon üblichen Accessoires wie Fernsehgerät, Video, Kühlschrank, Mikrowelle und Kaffeemaschine werden im Megaspace-Haus in einem sinnvoll gestalteten Staubox-System an der Fahrerhausrückwand untergebracht. In der an die Einbauküche eines Raumschiffs erinnernde Schrankwand soll die Fahrzeugbesatzung ihre Utensilien während der Fahrt komplett unterbringen können. Für Langstreckenfahrten, auf denen die Fahrer oft eine ganze Woche im Lkw-Fahrerhaus leben müssen, stellt das neue Actros-Konzept eine deutliche Verbesserung dar. Der Lebensraum im Fahrerhaus wuchs im Vergleich zu dem klassisch gestalteten Vorgängermodell um bis zu 47 Prozent.

Auch im übrigen wird die Arbeit des Fahrers am Steuer eines Actros immer mehr an den Bedienkomfort eines Pkw angeglichen. Wo bei den meisten anderen Lkw-Typen mit mehr oder minder nachdrücklicher Gewalt ein Schaltstock geschwungen werden muß, übernehmen im neuen Mercedes-Flaggschiff elektropneumatische Hilfen den Gangwechsel. Die bereits in der Vorgänger-Baureihe serienmäßig eingesetzte EPS-Schaltung wurde zur Kiellegung des Actros einer weitreichenden Überarbeitung unterzogen. Über einen kleinen Bedienhebel, der die Größe eines Computer-Joysticks kaum übertrifft, wird das 16stufige Getriebe sequentiell und ohne jeden Kraftaufwand elektropneumatisch geschaltet. Eine Steuerungselektronik verhindert dabei das Verschalten in unzulässig hohe Drehzahlregionen oder eine unbeabsichtigte Schaltung in den Leerlauf.

Wer den Fahrkomfort im Langstreckeneinsatz auf die Spitze treiben will, kann zu einer weiter automatisierten Variante der computerkontrollierten Schaltung greifen. Mit der EAS-Schaltung fällt auch die Kupplungsarbeit für den Fahrer weg. Mit Hilfe eines Zentralrechners wird der Kupplungsvorgang beim Anfahren und bei allen Schaltvorgängen automatisiert. Der Fahrer kann mit diesem System entweder nach üblicher Manier selbst schalten oder dem Rechner den Zeitpunkt der Schaltung überlassen. Die Art und Weise, wie feinfühlig das automatisierte System auch unter Last am Berg schaltet, wird wohl auch alte Hasen am Lkw-Steuer überzeugen können. Ist dennoch einmal die Fußfertigkeit des Fahrers gefragt - wie beispielsweise bei schwierigen Rangiermanövern - läßt sich die Kupplung über ein ausklappbares Fußpedal auch nach alter Art betätigen.

Durch die Automatisierung von Routinetätigkeiten wie Schalten und Kuppeln wird der Fahrer vor allem im Langstreckeneinsatz deutlich entlastet. Neben dem gebotenen Bedienkomfort halten diese Systeme auch die Kondition des Fahrers länger aufrecht und tragen in erfreulichem Maße zur Sicherheit im Lkw bei.

In puncto Wartung und Service brechen mit dem Actros ebenfalls neue Zeiten an. Ein zentrales Nervensystem von elektronischen Überwachungs- und Steuerungsfunktionen, das auf den vielversprechenden Namen Telligent getauft wurde, entlastet den Fahrer von den bislang üblichen Kontrollen vor und während der Fahrt. Die allfällige Kontrolle von Öl- und Wasserstand, Bremsbelagstärke oder Hydrauliköl vor Fahrtbeginn erfolgt im Actros an einem Display im Armaturenbrett. Fehlermeldungen und Diagnoseberichte werden hier ebenfalls angezeigt und können über eine zentrale Schnittstelle in der Werkstatt abgefragt werden. Routinearbeiten wie beispielsweise der Motorölwechsel werden im Actros seltener anfallen. Auch hier überwacht ein Bordcomputer das Verschleißverhalten und die Betriebszustände von Motor, Achsen und Getriebe.

Der Rechner mahnt zum Service

Erst wenn tatsächlicher Wartungsbedarf besteht, mahnt der Rechner zum Service. Damit sollen sich nach Voraussagen der Techniker die Wartungskosten um bis zu 60 Prozent reduzieren - und die Standzeiten sogar halbieren lassen. Ein Regelservice soll im Actros nur mehr alle 100 000 Kilometer anstehen. Wer weiß, daß bereits ein zusätzlicher Service-Stop in der Kalkulation eines Transportunternehmers entscheidenden Einfluß auf die Rentabilität des Fahrzeugs haben kann, wird das neue Wartungssystem schätzen.

Bei den Motoren setzt Mercedes auf Zukunftstechnologie. Die V6- und V8-Turbodiesel der 500er Baureihe werden in sieben Leistungsstufen von 313 PS bis hin zum prestigeträchtigen, aber nur schwer zu verkaufenden 570 PS-Flaggschiff angeboten. Die neuen Vierventilmotoren arbeiten mit Pumpe-Leitung-Düse-Einspritztechnik, die jedem Zylinder individuell nach Lastzustand und Drehzahl den benötigten Kraftstoff zuteilt. Mit dem elektronisch geregelten Motormanagement, das ebenfalls in das Telligent-Rechnersystem eingebunden ist, werden neben der vom Kunden verlangten Verbrauchsreduzierung die strengeren Abgas-Limits der von Oktober an gültigen Euro-2-Norm eingehalten. Auch für die kommende Abgasnorm Euro-3 sind die neuen V-Motoren gerüstet. Die Techniker mußten dabei einen technischen Spagat bewältigen. Trotz reduzierter Abgaswerte werden die neuen Motoren gegenüber ihren Vorgängern um bis zu sieben Prozent weniger Kraftstoff konsumieren. Dabei handelt es sich um ein Verbesserungspotential, das im durchschnittlichen Fernverkehrseinsatz dem Kunden eine Jahresersparnis von 3000 Mark an Kraftstoffkosten ermöglichen kann.

Sowohl Kostenersparnis als auch einen entscheidenden Schritt zu mehr Fahrsicherheit beim Lkw verspricht der Einsatz völlig neuer Bremstechnik im Actros. Während die Vorgänger noch mit Trommelbremsen ausgerüstet wurden, arbeiten beim Mercedes Actros an allen Achsen innenbelüftete Scheibenbremsen. Ein besonderer Clou ist dabei die Steuerung der Bremsanlage: Mercedes setzt hier zeitgleich mit dem Hersteller Scania die im Lkw völlig neue "Brake by wire"-Technik ein. An Stelle des Druckluftkreises vom Bremspedal bis zum Radbremszylinder tritt ein elektronisch geregeltes System mit erheblich kürzeren Arbeitszeiten. Die Steuerung der Bremsung übernimmt ein Potentiometer am Bremspedal, das die Radbremszylinder direkt elektronisch ansteuert. Der Vorteil dieser Regelung sind nicht nur die kürzeren Reaktionszeiten der Anlage, die den Bremsweg aus Autobahntempo 85 km/h um eine Lastzuglänge (18 Meter) verkürzen.

Zu jeder Zeit perfekt bremsen

Der zur Bremssteuerung eingesetzte Bordcomputer errechnet abhängig von Beladungszustand, Radhaftung an der Straße und Stärke der Bremsung die optimale Verteilung der Bremskraft an die verschiedenen Bremsen. So wird die intelligente Bremse bei leichten Bremsungen die Achse mit dem besten Tragbild der Bremsbeläge aussuchen, um einen gleichmäßigen Belagverschleiß zu erreichen, der die Lebensdauer der Bremse verlängert. Bei Gefahrenbremsungen werden dagegen alle Radbremsen maximal angesteuert. Der Fahrer selbst merkt von den Eingriffen der elektronischen Heinzelmännchen an der Bremse nur wenig. Die Scheibenbremsen lassen sich sehr feinfühlig dosieren. Sie reagieren deutlich schneller als herkömmliche pneumatisch geregelte Anlagen. Der Gesetzgeber verlangt bei der neuen Bremsregelung allerdings noch ein Sicherheitssystem. Deshalb liegt parallel zu der elektronischen Regelung ein pneumatischer Bremskreis, der bei einem Totalausfall eingreift.

Mercedes plant, mit einem jährlichen Produktionsausstoß von 50 000 Actros wieder zur alten Marktdominanz zurückzufinden. Doch im Prinzip kommt der Actros ein Jahr zu spät. Haldenbestände bis zu 14 000 Fahrzeuge und die Bezuschussung eines jeden bisher gebauten Lkw mit 10 000 Mark haben die Weltmarktführer unter massiven Zugzwang gesetzt. Mit der neuen Actros-Familie soll dies alles besser werden. Die Fertigungstiefe der im badischen Wörth produzierten schweren Lkw wurde halbiert. Gleichzeitig konnte man die Vielfalt an verschiedenen Baumustern verdoppeln. Dieser radikale Schnitt in der Fertigung ließ sich nur mit dem weiteren Ausbau des Baukastensystems erreichen, durch den viele Gleichteile in mehreren Fahrzeugbaureihen eingesetzt werden können.

Der Kunde soll von der drastischen Kostenkur in der Mercedes-Produktion profitieren. Gegenüber dem Vorgängermodell werden die Preise für vergleichbare Actros-Lkw nicht verändert. Wer den Markt kennt, weiß allerdings, daß der Listenpreis eines Lkw seit vielen Jahren nur noch Makulatur darstellt. Gutes Verhandlungsgeschick und entsprechende Abnahmekontingente vorausgesetzt, sind heute bis über 50 Prozent Rabatt möglich. Mit dem neuen Actros wird es den Rabattfuchsern wohl aber etwas schwerer fallen, die tatsächlichen Anschaffungspreise zu drücken. Die Kundschaft wird die Geburt des neuen Sterns unter den schweren Lastwagen trotz anhaltend schlechter Ertragslage auf dem Transportmarkt begrüßen. Denn mit dem Actros scheint sich das lange Warten auf den neuen Mercedes gelohnt zu haben.

Von Oliver Willms

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