Mercedes-Benz 600 SEC:Im Luxus versunken

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Mercedes hat sich auf die Suche nach der Perfektion gemacht

(SZ vom 07.11.1992) Eine Szene von vielen: Wir warten im neuen SEC vor einer roten Ampel. Auf der Nebenspur hält ein 560 SEC aus der letzten Serie. Der Fahrer, ein seriös wirkender Herr wie du und ich, mustert unser 220 020 Mark teures Prachtstück, schüttelt traurig den Kopf, läßt den rechten Daumen in Richtung Schalthebel sinken und gleitet davon, als die Ampel auf Gelb springt. Ein Einzelfall, natürlich. Es gab auch andere, euphorisch-positive Reaktionen. Doch der Eindruck, den das neue Mercedes-Coupé auf seine Umwelt macht, ist bestimmt von den Kontroversen um seine Form und von der Frage, ob Autos wie dieses noch in unsere Zeit passen.

Man kann über Design philosophieren, man kann aber auch handfeste Vor- und Nachteile festmachen. Zu den objektiven Schwächen des 600 SEC gehören die überbreite C-Säule (sie behindert die Sicht nach schräg hinten), der Spalt zwischen den rahmenlosen Seitenfenstern (er verursacht Windgeräusche) und die Form des Vorderwagens (der SEC ist deutlich windempfindlicher und weniger richtungsstabil als die Limousine). Die eher subjektiven Schwächen betreffen die im Vergleich zur wuchtigen Karosserie schmale Spur (andere Radträger und eine Höhenstandskorrektur sollen hier Abhilfe schaffen) und das trotz der verlängerten Peilstäbe unübersichtliche Heck.

Das SEC-Coupé ist außen wie innen tadellos verarbeitet. Hochwertige Materialien und gediegene Farbkombinationen bestimmen das Bild. Trotzdem will keine rechte Freude aufkommen, denn der Wagen ist selbst für Sitzriesen (der Autor mißt 2,04 Meter) eine ganze Nummer zu breit und zu hoch. Die Armlehnen müßten doppelt so ausladend sein, um ihren Zweck zu erfüllen, und die Kopffreiheit ist derart großzügig bemessen, daß sich in Stuttgart inzwischen vermutlich die Dankesschreiben der Hutmacher-Innung häufen. Das mit edlem Wurzelholz ausgelegte Armaturenbrett sieht imposant aus, ist aber nicht immer praxisgerecht. Ein Negativ-Beispiel ist die überfrachtete Mittelkonsole, in der sich abgezählte 60 Tasten und Knöpfe (inklusive Radio) tummeln, die vor allem bei Nachtfahrt einen zielsicheren Zeigefinger erfordern.

Die Ausstattung des 600 SEC ist so komplett, daß es leichter wäre, jene Dinge aufzulisten, für die man gesondert zur Kasse gebeten wird. Dazu gehören unverständlicherweise die Diebstahlwarnanlage und die Niveauregulierung an der Hinterachse. Ansonsten bleibt kaum ein Wunsch unerfüllt - sogar zwei Airbags sind im Preis enthalten, wobei dank neuer Technik auf der Beifahrerseite wieder Platz ist für ein vollwertiges Handschuhfach.

Der Zwölfzylinder leistet 395 PS, doch auf glatter oder nasser Straße bleibt nicht viel davon übrig, weil die serienmäßige Anti-Schlupf-Regelung (ASR) mal eben 100 oder 200 PS lahmlegt. Das 6,0- Liter-Triebwerk ist übrigens kein in Watte gepackter Flüstermotor, sondern ein durchaus sportlich ausgelegtes Aggregat, das bei Vollast entsprechend kernig klingelt. Die Fahrleistungen sind beeindruckend (Null auf 100 km/h in 6,0 Sekunden, 250 km/h Spitze), und der Testverbrauch war mit 16,6 Liter längst nicht so hoch wie befürchtet. Unter dem Strich harmoniert der Zwölfender mit dem sportlich-luxuriösen Coupé noch etwas besser als mit der Limousine. Trotzdem drängt sich die Frage auf, ob die 395 PS-Version wirklich um 63 000 Mark erstrebenswerter ist als der 500 SEC mit seinen 235 kW (320 PS).

Die Viergang-Automatik wechselt die Gänge sanft und ruckfrei, aber sie ist im Gegensatz zu den neuen Automatik-Getrieben von Audi und BMW nur bedingt lernfähig. Das Ergebnis: unerwünschtes Hochschalten (besonders lästig vor Kurven) und zögerndes Zurückschalten (eine Mercedes-typische Auslegung) statt abgestuftem Kick-down-Effekt. Eine weitere SEC-Schwäche ist der nur durchschnittliche Langsamfahrkomfort. Speziell Autobahn-Trennfugen und Kanaldeckel steckt der Wagen weit weniger souverän weg als erwartet, Mercedes macht dafür die relativ steifen Hochgeschwindigkeitsreifen (235/60 ZR 60) verantwortlich und empfiehlt das - allerdings aufpreispflichtige - adaptive Dämpfersystem (ADS), das besonders sensibel auf Fahrbahnunebenheiten reagiert.

Die tempoabhängige Parameter-Lenkung des 600 SEC ist leichtgängig und präzise, aber sie könnte ohne weiteres noch direkter und progressiver arbeiten. Der 500 E lenkt sich beispielsweise viel exakter, und auch ein zum Vergleich gefahrener (früher) 300 SE ohne Parameter-Lenkung wirkte merklich richtungsstabiler. Die volle Punktzahl kassiert das Coupé für seine standfesten und problemlos dosierbaren Bremsen. Fahrdynamisch ist der 600 SEC ohnehin voll auf der Höhe der Zeit. Er bietet jede Menge Grip, eine souveräne Straßenlage und ein im Grenzbereich mild untersteuerndes Handling, das (bei entsprechendem Reifenverschleiß) hohe Kurvengeschwindigkeiten zuläßt.

Trotzdem empfiehlt sich der 290 kW (395 PS)starke Viersitzer nicht als reinrassiger Sportwagen, sondern als betont luxuriöses, absolut langstreckentaugliches Coupé. Keine Frage: Der 600 SEC ist ein ungewöhnlich kompetentes Automobil - aber ihm fehlt nicht nur die optische Ausgewogenheit des Vorgängermodells, sondern auch der fahrerische Reiz. Wer hätte gedacht, daß das Streben nach Perfektem eines Tages in einer Sackgasse enden würde?

Von Georg Kacher

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