Honda Goldwing:Wenn Träume Flügel haben

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Der schönste Platz ist auf dem 'Thron' - als Beifahrer

(SZ vom 20.08.1994) Was kann schöner sein als selbst Motorrad zu fahren? Im Falle der Honda Goldwing behaupte ich: gefahren werden, und zwar auf dem hinter dem Fahrersitz montierten, erhöhten 'Thron'. Der weist eine Rückenlehne, Armstützen mit integrierten Lautsprechern und eine überaus prächtige Übersicht auf. Selbstverständlich liegt es mir fern, den Fahrerplatz als minderwertig zu bezeichnen (was ja vor allem den Besitzern dieses in Deutschland 31 970 Mark teuren Motorrads schwerste psychische Probleme verursachen dürfte), aber es bleibt festzuhalten: Auf der Goldwing chauffiert zu werden, ist ein Genuß für sich.

Natürlich hat sich mein Fahrer auf den immerhin 2300 Kilometern, die er innerhalb von nur fünfeinhalb Tagen zurücklegen 'mußte', nie beschwert - ganz im Gegenteil: Er lobte nicht nur die überaus entspannte Sitzposition, den phantastischen Wind- und Wetterschutz und den hervorragenden Federungskomfort sowie die leichte Bedienung der GL 1500, sondern auch ihr Fahrwerk und insbesondere ihren Motor. Daß der in der Tat eine Wucht ist, fühlt man auch hinten: Der wassergekühlte Sechszylinder-Boxermotor mit 1,5 Litern Hubraum säuselt die Leistung geradezu aus dem Auspuff. 74 kW (100 PS) fallen bei nur 5200 Kurbelwellenumdrehungen an, die Elastizität ist beeindruckend: Selbst im obersten der fünf Gänge zieht die Goldwing noch bei tausend Touren ruckfrei durch - selbstverständlich mit besetztem Soziussitz. Die Leistungsentfaltung erinnert an einen, allerdings unhörbaren, Schiffsdiesel - Schub ohne Ende. Der Verbrauch liegt zwischen 6,2 und 8,1 Liter, im Schnitt brauchten wir bei gemächlicher Fahrweise 6,9 Liter auf 100 Kilometer.

Mit eingebautem Rückwärtsgang

Ganz überrascht war mein Chauffeur auch von der Handlichkeit der von vielen anderen Motorradfahrern abschätzig als 'Straßenkreuzer' bezeichneten Goldwing: Vor allem wegen des breiten Lenkers und der entspannten Sitzposition war das präzise Dirigieren des vollgepackt beinahe 600 Kilogramm schweren Motorrads niemals ein Problem. Den eingebauten Rückwärtsgang legte mein Chauffeur übrigens nur ein, wenn er die immer wieder um das geparkte Zweirad versammelten Zuschauer beeindrucken wollte.

Ein dickes Lob stellte mein Chauffeur auch der ungewöhnlichen Bremsanlage aus: Das Fußpedal wirkt nämlich nicht nur auf die hintere Scheibenbremse, sondern zusätzlich auf eine der beiden vorderen Scheiben. Die Handbremse stellt damit eine Art Zusatzbremse dar - in der Praxis eine absolut überzeugende Lösung.

Der Punkt 'Ausstattung', bei fast jedem anderen Motorrad in wenigen Worten erledigt, benötigt bei der Goldwing deutlich mehr Platz: Schließlich gibt es Tempomat, Niveauregulierung, Stereoanlage mit Gegensprecheinrichtung, die serienmäßigen Gepäcktaschen der drei 'Kofferräume' und den regulierbaren Lufteinlaß in der Windschutzscheibe zu erwähnen. Sowohl über Tempomat wie Niveauregulierung äußerte sich mein Chauffeur anerkennend, die Musikanlage verkürzt lange Reiseetappen sehr angenehm. Und der Lufteinlaß sorgt für genügend frische Luft um die Nase.

Ich wurde zum Glück auf einer amerikanisch-kanadischen Version der Goldwing chauffiert. Und die hat einiges mehr, als der penible deutsche TÜV dem offiziellen Honda-Importeur in Offenbach genehmigen will. Der TÜV sperrt sich gegen das normale Topcase und schreibt statt dessen ein bestenfalls für den Pizzatransport geeignetes Behältnis vor. Dadurch entfallen die hinteren Lautsprecher und die wohltuenden Armlehnen. Auch die hohe Windschutzscheibe bekam vom TÜV die Rote Karte, genauso die Gegensprechanlage. Deshalb - und aus Kostengründen - kauften bis vor zwei Jahren rund die Hälfte aller Goldwing-Kunden nicht beim offiziellen Honda-Händler, sondern im sogenannten Grauhandel. Doch seit der Preisvorsprung der 'Grauen' für die besonders luxuriöse SE-Version nicht mehr groß ist, und einige Händler mehr Flexibilität zeigen, steigen die Anteile der 'offiziellen' Goldwings. Mit gewissem Engagement können Händler und Käufer zum Glück Mittel und Wege finden, um die deutsche Goldwing auf den begehrten - und in der Praxis angenehmen - amerikanischen Stand zu brigen; übigens mit dem Segen des TÜV. Was Honda in Offenbach ärgert und freut zugleich . . .

Ein letztes Wort zur Genuß-Frage: Natürlich ist Goldwing-Fahren mit mäßigem Tempo ganz besonders schön. Aufgrund der bequemen Sitzposition und der sanften Motorcharakteristik spielt die Zeit im 'Sattel' praktisch keine Rolle; der Landschaftsgenuß steigt in vorher ungekannte Dimensionen. Aber es ist doch immer wieder eindrucksvoll für den Goldwing- Passagier, wenn der Chauffeur munter durch die Kurven schwingt. Daß das mit Leichtigkeit geht und selbst auf kleinen, winkeligen Straßen und auch ohne festen Belag keine Probleme auftauchen, hat Fahrer und Sozius erstaunt. Und daß der Chauffeur sich dabei noch nicht mal anstrengen mußte, verwunderte noch mehr. Deshalb sei allen überheblich auf Goldwing-Liebhaber Herabblickenden gesagt: Man kann mit einer GL 1500 wirklich motorradfahren! Am schönsten freilich - hintendrauf . . .

Von Ulf Böhringer

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