Fußgänger als mobile Hindernisse:Weniger Schilder - mehr Sicherheit

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"Shared Space" will die Menschen zurück auf die Straßen holen. Theoretisch soll der Verzicht auf Schilder und Ampeln den Straßenverkehr sicherer machen.

Joachim Becker

Wem gehört die Straße? Dieser Streit ist wenigstens so alt wie das Auto selbst; denn kommen sich Motorwagen und Fußgänger in die Quere, kann jedes Missverständnis gravierende Folgen haben.

(Foto: N/A)

Und so musste etwa zu Beginn des 20. Jahrhunderts in England vor jedem Automobil ein Warnläufer mit rotem Wimpel herrennen. Diese Art der Unfallprävention konnte sich bekannterweise nicht durchsetzen; dafür hatte moderne Stadtplanung mehr Erfolg.

20 Millionen Verkehrszeichen allein in Deutschland

Das US-Städtchen Radburn in New Jersey brüstete sich bereits 1929 mit dem Titel ,,town for the motor age''; der Fortschritt bestand darin, die Verkehrswege von Autos und Fußgängern konsequent zu trennen. Man gewährte Autos freie Fahrt, Fußgänger hatten sich aus dem anschwellenden Verkehrsfluss möglichst herauszuhalten.

Welche zivilisatorischen Mühen diese Trennung der Verkehrsteilnehmer gekostet hat, vermag man sich kaum vorzustellen; aber allein die 20 Millionen Verkehrszeichen an deutschen Straßen und die Innenstädte voller bremsender Poller vermitteln eine Ahnung von den Ausmaßen des Kulturkampfes.

"Regeln sind immer zu eng oder zu weit"

So erscheint uns heute das Straßengewühl aus Menschen, Tieren und Fahrzeugen in Drittweltländern als Inbegriff von Anarchie und Chaos; ein vermeintliches Chaos, das - abgewandelt - aber auch in italienischen Altstadtgässchen erstaunlich gut funktioniert.

Deshalb will der holländische Verkehrsexperte Hans Mondermann dieses Miteinander auch in Nordeuropa wieder einführen: ,,Alles uniform zu machen, durch Regeln und Schilder - das ist verrückt. Regeln sind immer zu eng oder zu weit. Sie passen zu Autobahnen, aber nicht in eine individuelle Umgebung.''

Der Vordenker der Shared-Space-Bewegung hat wesentlich dazu beigetragen, dass im niedersächsischen Bohmte wie in zahlreichen anderen europäischen Städten Ampeln und Verkehrsschilder abmontiert und die Bordsteine geschliffen werden.

Denn ,,Shared Space'' heißt nichts anderes, als die Menschen zurück auf die Straßen zu holen. Bei dem Projekt, das von der Europäischen Union mit immerhin 1,5 Millionen Euro gefördert wird, sind Fußgänger als mobile Verkehrshindernisse in den Innenstädten fest eingeplant - und das vermeintlich höhere Unfallrisiko nehmen die Verkehrsplaner dabei billigend in Kauf. ,,Risiko schafft Sicherheit'' ist eine der Lehren von Shared Space, eine andere lautet: ,,Fahre langsamer, damit du schneller durch die Stadt kommst.''

Getrennte Spuren wirken sicher, aber in der Praxis stimmt das Gegenteil: Autofahrer verursachen mehr Unfälle mit Personenschaden, eben weil sie keine Passanten auf der Straße erwarten.

(Foto: N/A)

Ingenieure betrachteten den anschwellenden Verkehr seit den sechziger Jahren als hydraulisches Problem, das höhere Durchflussraten lösen sollten. Sie gruben breite Ringkanäle durch die Städte, Fußgänger wurden in Unterführungen umgeleitet. Das Auto machte sich die Städte untertan und schnitt dabei ganze Wohnviertel vom gewachsenen Sozialleben ab.

,,Bei einem Verkehrsaufkommen von 10000 bis 12000 Kraftfahrzeugen pro Tag klingt Shared Space als Träumerei einiger Weltverbesserer. Für mich übersteigt das all meine Vorstellungskraft'', gab ein Anwohner aus Bohmte zu - der niedersächsischen Gemeinde, die im Rahmen von Shared Space umgestaltet werden soll.

Rechts vor links reicht

Doch dann überzeugte ihn eine Infofahrt nach Holland: ,,Das hätte ich mir nicht vorstellen können. Hier wird einem nicht durch Verkehrszeichen oder Fahrbahnmarkierungen das Gefühl gegeben, im Recht zu sein; Radler, Fußgänger oder ältere Mitbürger werden nicht ausgegrenzt. Es herrscht ruhige, fließende Bewegung um optische Bebauungen und in den Verkehrsraum ragende Cafés.''

Reisende soll man nicht aufhalten, findet Hans Mondermann - schon gar nicht durch überflüssige Verkehrsregeln. Das Fahren auf der rechten Spur und ,,rechts vor links'' reichen seiner Meinung nach völlig aus, um selbst Hauptstraßen zu beruhigen. Statt des erlaubten Höchsttempos von 30 km/h würden die Autos dort meist nur halb so schnell fahren - und trotzdem eher ans Ziel kommen.

Was nervt mehr, als leere Straßen mit roten Ampeln?

Das Zauberwort des individuell geregelten Verkehrs heißt Augenkontakt. ,,Die Leute wissen nicht mehr genau, was sie tun müssen und suchen deshalb Augenkontakt. Weil das nur bei niedriger Geschwindigkeit möglich ist, kann eigentlich nichts mehr schiefgehen'', sagt Mondermann, der für seine Pionierarbeit zum Ehrendoktor der Cosmopolitan University, Missouri USA, ernannt wurde.

Verkehrszeichen sind eine Art Fernsteuerung für den Fahrer, der einen Teil seiner Verantwortung an die Obrigkeit abgibt. Das ist praktisch, wenn man mit der Masse mitschwimmen kann, nervt aber, wenn man nachts auf leeren Straßen permanent von roten Ampeln aufgehalten wird.

Wirkung als einziges großes Zeichen

Die wenigsten Schilder und Lichtsignale orientieren sich am tatsächlichen Verkehrsgeschehen; von intelligent gesteuerten Ampeln, die zur Abgasreduzierung in den Städten beitragen könnten, keine Spur.

Auch bei den Schildern herrscht Wildwuchs: Der ADAC beklagt, dass mindestens ein Drittel aller Verkehrszeichen überflüssig ist.

Fehlt also nur die Axt im Schilderwald, wie sie Hans Mondermann propagiert? Ganz so simpel ist Shared Space nicht. Zum einen müssen Straßen und Plätze gleichsam als ein einziges großes Zeichen wirken, um erhöhte Aufmerksamkeit zu wecken. Zum andern funktioniert das langsame lokale Verkehrsnetz nur, wenn es in ein schnelles Regionalnetz eingebunden ist.

Denn zur Psychologie des Reisens gehört abnehmende Geduld bei zunehmender Entfernung: ,,Wenn ich geradlinig von A nach B will, bin ich noch ungefähr drei Minuten bereit, den Weg mit langsamen Verkehrsteilnehmern zu teilen, aber danach will ich endlich freie Fahrt haben'', heißt es in den Erläuterungen zu Shared Space.

© SZ vom 20.01.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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