Fiat Palio:Alte Autos sind nicht mehr gefragt

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Auch in den Entwicklungs- und Schwellenländern verlangen die Autokäufer nach High-Tech

(SZ vom 05.06.1996) Brasilien, Argentinien, Indien, China - das sind, wenn man den Wirtschaftsauguren glauben darf, die Märkte der Zukunft. Und eine der Waren, denen dort das größte Wachstumspotential zugetraut wird, sind Automobile. Die Menschen wollen auch in den Entwicklungs- und Schwellenländern mobil sein - und sie lassen sich im Zeitalter der weltweiten Kommunikation und Information nicht mehr mit Fahrzeugen abspeisen, die technisch und vom Design her nicht dem Stand der Dinge entsprechen.

Das haben die weltweit agierenden Automobilhersteller, die sogenannten Gobal Players (siehe nebenstehenden Kasten) erkannt. Da sie aber nicht für jedes Land der Welt eine eigene Modellpalette entwickeln können, haben sie den Begriff des Weltautos erfunden: ein Modell, das mit geringen Modifikationen auf nahezu allen Märkten dieser Erde verkauft werden kann. Angefangen hat es mit dem X-Car von General Motors, das ein Flop wurde, dann kam der Mondeo von Ford, und nun versucht Fiat, mit dem Palio seine Marktposition zuerst in Südamerika, und vor allem in Brasilien, auszubauen.

Den brasilianischen Markt haben derzeit vier Hersteller fest im Griff: Marktführer ist VW mit einem Anteil von 32 Prozent, wie die zahllosen VW Käfer und VW-Busse im Straßenbild augenfällig machen. Die Nummer zwei stellt Fiat mit einem Marktanteil von 25 Prozent dar , gejagt von den amerikanischen Großen (GM und Ford) mit 23 und elf Prozent. Die Japaner spielen kaum eine Rolle, weil sie es versäumten, wie in den USA eigene Werke hochzuziehen.

Denn Stückzahlen kann in den meisten Schwellenländern nur der Hersteller erzielen, der im Land produziert - sonst verderben Einfuhrzölle und Importsteuern von vorne herein das Geschäft. Bei Fiat ist man stolz darauf, daß im Werk Betim, das nahe bei Belo Horizonte liegt, der Palio mit einem local content von 80 Prozent hergestellt werden kann - allerdings mit einem sehr niedrigen Automationsgrad. Automontage ist in Betim noch nahezu ausschließlich Handarbeit - und Männersache. Mehr als 20 000 Männer arbeiten in der Fertigung. Und sie bauen ein Auto, das sie sich wahrscheinlich niemals leisten können.

Auf rund 15 000 Dollar hat Fiat den Preis für den Palio kalkuliert - der Mindestlohn beträgt in Brasilien 112 Dollar monatlich, ein Arbeiter bei Fiat verdient immerhin knapp 300 Dollar. Aber auch in Brasilien und anderen Schwellenländern gibt es eine Mittelschicht und ein wenig Wohlstand - und so rechnet Fiat für den Palio mit großen Stückzahlen. Wenn die Produktion globale Dimensionen angenommen haben wird (Argentinien, Indien, Indonesien sind als Montagestandorte geplant), soll eine Million Exemplare jährlich verkauft werden - damit wäre der Palio das mit Abstand erfolgreichste Modell der Fiat-Geschichte.

Doch noch ist es nicht so weit - im April begann die Fertigung in Betim, wo auch der Kleintransporter Fiorino gebaut wird. Für 15 000 Dollar wird ein Auto angeboten, das sich nicht hinter Modellen aus europäischer oder japanischer Fertigung zu verstecken braucht. Der Palio ist kein Auto, das in Europa keiner mehr kaufen würde, weil es schludrig zusammengebaut, schlecht ausgestattet und schwammig zu fahren wäre. Mit technisch überholten Autos ist in Brasilien kein Geld zu verdienen, denn auch hier weiß man über Autos gut Bescheid. Der wichtigste Einrichtungsgegenstand scheint - auch wenn sonst das Nötigste fehlt - eine Satellitenschüssel vor der Hütte zu sein, die die Werbespots der Autohersteller auf den Fernseher holt.

Nur der Radstand ist identisch

Der Palio basiert auf der in Turin entwickelten Baureihe 178, aus der für den europäischen Markt der Uno hervorging. Der Radstand ist noch identisch, das Design und die Technik sind weiterentwickelt. Zwei Versionen stehen bei der Schrägheck-Karosserie zur Wahl: ein Drei- und ein Fünftürer, die wahlweise von einem 1,5-Liter-Vierzylindermotor mit 56 kW (76 PS) oder einem 1,6-Liter-Aggregat mit 16V-Technik und 78 kW (106 PS) angetrieben werden. Die Serienausstattung entspricht europäischen Standards, mit einem Fahrerairbag, Seitenaufprallschutz in den Türen, einem Drei-Wege-Katalysator und Wegfahrsperre. Auf Wunsch können auch ein Beifahrerairbag, ABS und Klimaanlage geliefert werden - bleibt nur die Frage, wer sich das leisten kann.

Bei ersten kurzen Fahreindrücken stellte sich das Gefühl ein, daß die Worte von der Robustheit und Solidität des Palio, die die Fiat-Manager zuvor beteuert hatten, mehr als Worthülsen sind: Es klapperte nichts, auch die Verarbeitung an den kritischen Stellen wie im Kofferraum scheint überzeugend. Nur aus dem Bereich der Heckablage drang ein leises Knarzen ans Ohr, wie man es aber von manch anderen Fließheckautos her kennt. Der 1,5-Liter-Motor, der in Brasilien gebaut wird, hinterließ einen etwas lauten Eindruck, obwohl unter der Motorhaube eine Menge Dämm-Material vorzufinden war - aber ob das eine Rolle spielt, weil doch immer mit heruntergekurbelten Fenster gefahren wird? Die Sitzkonstruktion hinterließ einen etwas einfachen Eindruck - dafür sind die weißen Ziffernblätter der Anzeigeinstrumente zur Zeit wohl der letzte Schrei.

Ein Weltauto und nur eine Variante - das kann nicht sein. In insgesamt fünf Versionen soll der Palio - der seinen Namen von einer Siegesstandarte, die bei mittelalterlichen Pferderennen dem Sieger überreicht wurde, herleitet - landes- und kundenspezifische Geschmäcker zufriedenstellen. Als nächstes wird in dem zur Zeit im Bau befindlichen Werk im argentinischen Cordoba die StufenheckVariante vom Band rollen. Geplant sind außerdem ein kleiner Kombi, ein Pickup und ein Kastenwagen. Der einzige Palio, der vielleicht einmal die deutschen Straßen erreichen wird, dürfte der Kombi - bei Fiat seit neuestem Wagon genannt - sein. Er soll in Polen produziert werden.

Schlechte Straßen in Brasilien

Derzeit werden in Betim rund 1900 Autos täglich produziert. Brasilien ist nach dem Heimatland Italien der wichtigste Markt für Fiat. In Betim - das Werk nahm 1976 die Produktion auf - werden vier verschiedene Montagelinien für Tipo, Tempra, Uno und Palio betrieben.

Der Uno wird in Brasilien noch rund eineinhalb Jahre produziert werden, weil sich die 1,0-Liter-Variante großer Beliebtheit erfreut. Höchstgeschwindigkeit ist außer auf dem Formel-1-Kurs nicht gefragt, da sich viele Straßen in einem schlechten Zustand befinden. So werden auf der werkseigenen Teststrecke nur maximal 80 Stundenkilometer gefahren. Auch in anderen südamerikanischen Ländern ist Höchstgeschwindigkeit nicht unbedingt ein Verkaufsargument, selbst wenn die 16V-Version 188 km/h schafft: Mehr als 40 Prozent aller in Betim produzierten Palio sind für den Export aus Brasilien vorgesehen.

Reichhaltig ist die Zubehör-Palette für den Palio: Eine Kinderwiege und ein Kindersitz dienen der Sicherheit, die Fahrt mit dem Nachwuchs machen Dinge wie ein Milchflaschenwärmer, ein Beauty-Case für die Kinderpflege unterwegs und leicht zu reinigende Sitzkissenabdeckungen angenehmer. Sport - den lieben die Brasilianer bekanntlich: Also stehen Zubehörteile wie Spoiler, Seitenschürzen, Leichtmetallfelgen und aerodynamische Leisten für die vorderen und hinteren Stoßfänger zur Auswahl - nicht zu vergessen die Fußpedale im Rallye-Look. Die Accessoires wurden in Zusammenarbeit mit dem Centro Stile Fiat entwickelt.

Schwellen im Schwellenland

Der Palio soll für den italienischen Hersteller Fiat die Eintrittskarte für neue Märkte auf verschiedenen Erdteilen sein. Klar ist, daß die Vorreiterrolle ein relativ kompaktes Auto übernehmen muß: Der Palio ist nur 3,73 Meter lang. Natürlich kann es da im Innenraum nicht allzu geräumig zugehen. Aber wer sich heute einen Palio leisten kann, der steigt morgen vielleicht auf einen größeren Fiat um. Auch künftige world cars von Fiat müssen vor allem eins sein: robust. Denn die Bezeichnung Schwellenland ist für Brasilien durchaus wörtlich zu nehmen: Wahrscheinlich nirgendwo anders gibt es so viele und so hohe Schwellen, um den offenbar manchmal zu rasanten Verkehrsablauf zu bremsen. Und oft fehlen auch die Hinweisschilder auf diese gewollten Hindernisse.

Von Otto Fritscher

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