Wunderstoff Oxytocin:Botenstoff der Liebe

Irrationales Verhalten im Liebesleben? Biologisch alles nur eine Frage des "Kuschelhormons" Oxytocin. Kann das, was Rekordwerte beim Orgasmus verschafft, auch Schüchternen helfen?

Die erste Aufgabe besteht darin, Blickkontakt aufzunehmen. Für die sechs Männer, die sich im Psychologischen Institut der Universität Zürich gegenübersitzen, bedeutet das Schwerstarbeit.

Wunderstoff Oxytocin: Das Hormon Oxytocin soll helfen - gegen Schüchternheit und eine ganze Reihe anderer Zustände, von denen Menschen geplagt werden.

Das Hormon Oxytocin soll helfen - gegen Schüchternheit und eine ganze Reihe anderer Zustände, von denen Menschen geplagt werden.

(Foto: Foto: iStock)

Sie werden unruhig, manche beginnen zu schwitzen, bei anderen rast der Puls. Die Männer leiden an sozialer Phobie, einer extrem ausprägten Schüchternheit. Im Lauf von zehn mehrstündigen Gruppensitzungen sollen sie durch Rollenspiele oder Vorträge ihre Scheu vor anderen Menschen abbauen.

Eine solche Verhaltenstherapie ist zur Behandlung der sozialen Phobie nicht ungewöhnlich, aber das Vorgehen in Zürich ist weltweit einzigartig: Eine knappe Stunde vor der Sitzung hat jeder Teilnehmer mit sechs Stößen das Hormon Oxytocin in die Nase gesprüht bekommen.

Der Botenstoff soll den Patienten die Angst voreinander nehmen und das Vertrauen zueinander fördern. "Oxytocin heilt nicht, aber es verringert in sozialen Situationen Angst und Stress", sagt Studienleiter Markus Heinrichs. "Damit wollen wir während der Treffen die Interaktion erleichtern."

Physiologische Wirkungen

Diese "psychobiologische Therapie" soll bei der Behandlung der sozialen Phobie die dürftige Erfolgsaussicht verbessern, die sonst bei knapp über 50 Prozent liegt. Die bisherigen Resultate stützen diese Hoffnung, wie der Psychologe auf einer internationalen Hormonforschertagung in Dresden berichtete.

Es ist nicht das erste Mal, dass Oxytocin unter Wissenschaftlern Aufsehen erregt. Schon im Jahr 1953 isolierte und synthetisierte der US-Chemiker Vincent du Vigneaud mit dem Hormon erstmals ein Neuropeptid - also eine kurze Aminosäurenkette, die zwischen Nervenzellen als Botenstoff dient. Dafür erhielt der Forscher zwei Jahre später den Nobelpreis für Chemie.

Das Interesse an der Substanz, die in der Hirnanhangdrüse gebildet wird, beschränkte sich anfangs auf die physiologische Wirkung. Studien mit dem Sekret der Drüse hatten schon im frühen 20.Jahrhundert gezeigt, dass einer der darin enthaltenen Stoffe Kontraktionen der Gebärmutter auslöst und somit die Wehen einleitet.

Dieser Stoff war Oxytocin, und so fand das Hormon schon in den 1960er Jahren den Weg auf den Arzneimittelmarkt, zumal sich herausstellte, dass es auch den Milchaustritt aus der Mutterbrust stimuliert.

Dass der physiologische Effekt nur einen Bruchteil des Wirkspektrums abdeckt, ahnte damals niemand. Erst in den 1990er Jahren wiesen Tierstudien nach, dass Oxytocin nicht nur Körperprozesse steuert, sondern auch Gefühle und Verhalten. Damals zeigte der Brite Richard Windle an Ratten, dass das Hormon Angst und Stress verringert. Noch ungewöhnlicher waren die Erkenntnisse des US-Forschers Tom Insel.

Bindungslose Bergwühlmaus

Der Biologe untersuchte zwei eng verwandte Arten von Wühlmäusen, die als Beispiel für den Einfluss des Hormons geradezu prädestiniert erscheinen. Die Präriewühlmaus (Microtus ochrogaster), geht eine feste lebenslange Partnerschaft ein, bei der das Paar den Nachwuchs gemeinsam aufzieht.

Ihr Vetter aus dem Gebirge (Microtus montanus) ist hingegen ein ausgesprochener Einzelgänger. Die Bergwühlmaus wechselt ihre Sexualpartner scheinbar wahllos, kümmert sich kaum um den Nachwuchs und scheut den Kontakt zu Artgenossen.

Diese Gegensätze führte Insel auf den unterschiedlichen Hormonhaushalt der Tiere zurück. Das Gehirn der Präriewühlmaus enthält weitaus mehr Oxytocin-Rezeptoren als das der Bergwühlmaus. Injizierte Insel einer weiblichen Präriewühlmaus Oxytocin ins Gehirn, so entwickelte das Tier eine Bindung an den gerade vorhandenen männlichen Artgenossen. Blockierte der Forscher dagegen die Wirkung des Hormons, verloren die Tiere ihre Partnertreue.

Welch bedeutende Rolle das Hormon Oxytocin für die menschliche Psyche spielt, lesen Sie auf Seite zwei.

Botenstoff der Liebe

"Das klang sehr spannend", erinnert sich Heinrichs, damals noch Doktorand an der Universität Trier. Als er daraufhin die Wirkung der Substanz am Menschen studieren wollte, wurde er von Kollegen als naiv belächelt. "Das kann beim Menschen nicht so einfach sein wie beim Tier", hieß es unisono. Aber Untersuchungen bestätigten, dass das Hormon das Sozialverhalten auch beim Menschen beeinflusst.

Der Durchbruch kam im Jahr 2005 mit einer Veröffentlichung im Fachblatt Nature. Darin zeigte Heinrichs zusammen mit dem Ökonomen Ernst Fehr, dass Probanden nach der Gabe von Oxytocin mehr Vertrauen zu Fremden fassen und ihnen großzügigere Kredite gewähren. Und dass Menschen unter dem Einfluss der Substanz selbst nach einem Vertrauensbruch die Zuversicht in andere nicht verlieren, berichteten die Forscher gerade im Fachblatt Neuron (Bd.58, S.639, 2008).

Geschärfter Blick

Etliche Studien haben inzwischen die Rolle des Hormons für die menschliche Psyche bestätigt. Oxytocin wird im Gehirn der Mutter vermehrt bei der Geburt des Kindes und erneut beim Saugen des Babys an der Brust ausgeschüttet.

Diese Hormonschübe, so glauben Forscher, prägen die Mutter-Kind-Beziehung wesentlich mit. "Stillen bietet nicht nur Nahrungsvorteile für das Baby, sondern es schafft eine besondere Form von Nähe", sagt Heinrichs. "Das verstärkt die Bindung auf biologischer Ebene."

Aber das Neuropeptid intensiviert auch andere zwischenmenschliche Beziehungen. Bei angenehmem Körperkontakt wie etwa Zärtlichkeiten wird der Stoff vermehrt gebildet. Und auf Rekordwerte schnellt die Konzentration beim Orgasmus. "Oxytocin ist an allen Prozessen beteiligt, die im weitesten Sinne der Fortpflanzung und dem Arterhalt dienen", sagt Heinrichs.

So schärft der Botenstoff etwa den Blick für die Gemütslage anderer Menschen. In einer Untersuchung des Neuropsychologen Gregor Domes, damals noch an der Universität Rostock, konnten Teilnehmer den Ausdruck von Augenpaaren besser interpretieren, wenn ihnen vorher Oxytocin in die Nase gesprüht wurde. Gerade bei schwer einzustufenden Ausdrücken schätzten sie zuverlässiger ein, ob die Menschen Glück, Trauer, Ekel oder Angst empfanden (Biological Psychiatry, Bd.61, S.731, 2007).

Forscher spekulieren darüber, auf welchem Weg das Hormon die Fähigkeit stärkt, sich in andere einzufühlen. Rezeptoren für das Hormon sind im ganzen Körper verteilt. Nicht nur Gebärmutter und Geschlechtsorgane, sondern auch Herz und Verdauungstrakt verfügen über Stellen, an denen Oxytocin andocken kann.

Hoffnung für Borderliner und Autisten

Aber nirgends ist dieses Netz so dicht geknüpft wie im Gehirn. Besonders großzügig ausgestattet ist Tierstudien zufolge die Amygdala. Diese Mandelkern-große Region im Gehirn ist ein Schlüsselareal für die Verarbeitung von Emotionen. Dort hemmt das Hormon Angstreaktionen, wie eine Studie der Universität Gießen 2005 zeigte.

Sprühten die Forscher um Peter Kirsch den Teilnehmern Oxytocin in die Nase, so reagierte die Amygdala schwächer auf Bilder von zornigen oder furchterfüllten Gesichtern. Indem das Hormon Ängste dämpft, die mit sozialen Situationen verbunden sind, so die naheliegende Annahme, fördert es die Offenheit dafür, menschliche Kontakte zuzulassen.

Angesichts solcher Vermutungen verwundert es nicht, dass Oxytocin zunehmend in den Fokus von Psychologen und Medizinern rückt. Etwa ein Dutzend Arbeitsgruppen weltweit loten derzeit das therapeutische Potential des Stoffes aus. Dabei richten sie ihr Augenmerk vor allem auf die Behandlung von sozialer Phobie, Borderline-Syndrom und Autismus.

Das Wunderhormon schärft auch die soziale Wahrnehmung. Mehr dazu auf Seite drei.

Botenstoff der Liebe

Gerade weil autistischen Menschen der Kontakt zu anderen Personen schwerfällt, erhoffen sich Mediziner Hilfe von dem Hormon. Zudem deuten manche Studien darauf hin, dass die Entwicklungsstörung mit einem veränderten Oxytocin-Stoffwechsel einhergeht.

So fanden Forscher im Blutplasma autistischer Kinder geringere Konzentrationen des Hormons als bei gesunden Gleichaltrigen. Dass der Botenstoff Symptome bessern kann, zeigen Pilotstudien der von Eric Hollander und Jennifer Bartz von der Mount Sinai School of Medicine in New York. Sie beobachteten, dass Autismuspatienten unter Oxytocin weniger als unter Placebo zu Wiederholungsverhalten neigten, einem Hauptmerkmal der Störung.

Vor allem verbesserte das Hormon die soziale Wahrnehmung. Hörten die Teilnehmer bedeutungsneutrale Sätze wie etwa "Der Junge geht zum Laden", konnten sie unter Oxytocin eher erkennen, ob der Tonfall des Redners wütend, traurig, glücklich oder gleichgültig war. Diese erhöhte Sensibilität war noch zwei Wochen später erkennbar (Biological Psychiatry, Bd.61, S.498, 2007).

Vorläufige Daten einer noch laufenden Pilotstudie an autistischen Erwachsenen stützen die Befunde, wie Jennifer Bartz am Wochenende auf der Dresdener Konferenz berichtete. Die Psychologin dämpft jedoch die Hoffnung auf ein Wundermittel, die etwa bei Eltern autistischer Kinder schnell aufkeimen dürfte: "Die Ergebnisse müssen in größeren Studien bestätigt werden, bevor man das therapeutische Potential von Oxytocin bei Autismus beurteilen kann." Von einem klinischen Einsatz des Hormons sei man noch weit entfernt.

Dubiose Mittel aus dem Internet

Im Vergleich dazu einen großen Schritt weiter ist Heinrichs bei der Behandlung der sozialen Phobie, der hierzulande nach Depression und Alkoholismus dritthäufigsten psychischen Erkrankung. Seit drei Jahren prüft der Psychologe, ob Oxytocin den Erfolg einer Verhaltenstherapie gegen die Angststörung steigert.

Die bisherigen Resultate stimmen ihn optimistisch. In den Gruppensitzungen ließen Schwitzen, Pulsrasen und schnelles Atmen unter Oxytocin schneller nach als unter Placebo. "Wir sehen sehr schöne Effekte", sagt Heinrichs. Bei vielen Patienten milderten sich die Symptome. Ob dieser Erfolg von Dauer ist, soll die Langzeitanalyse im kommenden Jahr klären.

Schon jetzt treibt der Wirbel um das Hormon skurrile Blüten. Im Internet preisen dubiose Firmen teure Oxytocin-Produkte an - etwa das Spray "Liquid Trust". Auf den Arm gesprüht soll das Mittel den Erfolg bei Geschäftsterminen oder Flirts steigern.

Leichtgläubige sollen hoffen, dass sich ein Hormonmolekül in die Nase des Gegenübers verirren und dort wundersam wirken könnte. Solche absurden Versprechungen zeigen vor allem eins: Vertrauen ist zwar essentiell für das menschliche Miteinander, aber auch gesundes Misstrauen schadet manchmal nicht.

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