Wilde Theorien:Überall Atlantis

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Im Mittelmeer, in Irland, Indien und der Antarktis vermuten Hobby-Forscher die versunkene Stadt - Einzelne von ihnen haben sogar Indizien.

Von Axel Bojanowski

Siebzehn Jahre hatte sich Ronnie Alonzo auf diesen Moment vorbereitet. Mit gesicherten Erkenntnissen über die sagenumwobene Insel Atlantis ausgestattet, war er von seinem Heimatort auf den Philippinen Mitte Juli zur "Atlantis-Konferenz 2005" auf die griechische Insel Milos gereist.

Dort präsentierte der Hobbyforscher dem staunenden Auditorium einen Stein, den er bei einer Wanderung in seiner Heimat gefunden hatte. Der Stein enthalte die Botschaft eines antiken Volkes, erklärte Alonzo. Er legte den Stein bei seinem Vortrag nach Berichten von Teilnehmern auf eine geologische Weltkarte und richtete ihn so aus, dass eine Maserung im Stein mit einer Erdbebenlinie der Karte zur Deckung kam.

Entlang dieser Linie habe sich Atlantis von Island über Großbritannien bis zu den Kanarischen Inseln erstreckt. Verblüffung im Publikum über die dürre These, dann eine hilflose Frage: Woher Alonzo wisse, wie herum der Stein gehöre? Der Philippiner lächelte und erklärte den Vortrag für beendet - eine Antwort hatte er offensichtlich nicht.

Platons Reiseführer

Die Episode zeigt: Ebenso faszinierend wie der Untergang von Atlantis ist der Untergang von Atlantis-Theorien, den man auf Milos vielfach beobachten konnte.

Hobby-Atlantiker, Naturwissenschaftler und Philosophen aus der ganzen Welt hatten sich versammelt und tischten 48 neue Erklärungen auf, von denen nur manche plausibel klangen, von denen aber fast alle unbewiesen waren.

Ihre Urheber hatten teure Reisen unternommen in der Hoffnung, so berühmt zu werden wie Heinrich Schliemann nach der Entdeckung Trojas. Doch wenn überhaupt, können sich wohl nur zwei Deutsche Hoffnung auf Ruhm machen.

Vieles spricht dafür, dass die vom Philosophen Platon vor knapp 2500 Jahren in Umlauf gebrachte Geschichte des paradiesischen Atlantis keine Schnurre ist.

Detailgenau wie in einem Reiseführer beschreibt er in den Dialogen "Timaios" und "Kritias" jenen idealen Staat, der vor rund 11.500 Jahren binnen Tagesfrist versunken sein soll. In der ganzen Welt wurde nach den Überresten gesucht, tausendfach ihre Entdeckung vermeldet.

Die Tagungsteilnehmer nahmen zunächst die bei Atlantikern unter Generalverdacht stehende Meeresenge von Gibraltar ins Visier. Denn "vor den Säulen des Herakles" - mutmaßlich die Felsen beiderseits der Passage - soll nach Platon Atlantis gelegen haben.

Zwar hatten dort bereits 1984 sowjetische U-Boote vergeblich gefahndet, doch der französische Geologe Jacques Collina-Girard von der Universität Aix-Marseille meint nun, die vor Gibraltar gelegenen untermeerischen Spartel-Inseln als Atlantis identifiziert zu haben. Sie seien bei einem rasanten Anstieg des Meeres zur fraglichen Zeit versunken.

Doch dann trat der Geologe Marc-André Gutscher von der Universität Brest aufs Podium. Er zeigte in einer Animation, wie das Wasser vor Gibraltar gestiegen war, als die Eiszeit endete.

Von der Spartel-Insel-Theorie seines Kollegen aus der Provence blieb nicht viel übrig: Vor 11.500 Jahren ragte vor Gibraltar keineswegs ein Inselreich aus dem Wasser, lediglich zwei Felsspitzen waren zu sehen. Rund 40 Meter höher als heute hätte der Meeresgrund damals liegen müssen, damit große Inseln die Wasseroberfläche hätten durchstoßen können.

Dass sich der Boden seither stark abgesenkt hätte, sei nur mit mehreren äußerst starken Erdbeben zu erklären, sagte Gutscher. Achtmal hätte die Region von Erdstößen wie 1755 erschüttert werden müssen, rechnet er in der kommenden Ausgabe des Fachmagazins Geology vor (Bd.33, S.685, 2005): Bei dem Beben, das Lissabon zerstörte, sackte der Grund in der Region tatsächlich um einige Meter ab.

Höhenprobleme

Allein, es fehlen die Belege für sieben weitere Beben. Zudem wurden weder auf dem Meeresboden noch an den Küsten Spuren einer steinzeitlichen Hochkultur gefunden.

Ähnliche Höhenprobleme plagten die Theorie von Axel Hausmann von der Technischen Universität Aachen. Atlantis, behauptet der Physiker, sei identisch mit einem Plateau zwischen Malta und Sizilien.

Ähnliche, rund 6000 Jahre alte Bauten auf beiden Inseln wiesen auf diese Landverbindung hin. Lege man die altägyptische und nicht die griechische Zeitrechnung zu Grunde, entspreche das Szenario auch Platons Überlieferung. Einziger Schönheitsfehler: Das betreffende Plateau lag damals unter Wasser.

Aber vielleicht kam es den Teilnehmern auf derartige Details gar nicht an, sondern darauf, den Zauber vom versunkenen Inselreich zu beleben. Wie sonst ist es zu erklären, dass sie selbst abstrusesten Theorien freundlich lauschten.

Ein Hobbyforscher vermutet Atlantis unter dem seit Jahrmillionen bestehenden Eispanzer der Antarktis, ein anderer in Südindien, weil die Griechen wichtige Erkenntnisse einer indischen Hochkultur importiert hätten.

Ein weiterer Vortragender verglich die Daten aus Platons Texten mit den Maßen aller Inseln der Erde und stellte fest, dass die Angaben nur auf eine zuträfen: Irland. Dass Irland nicht versunken ist, scheint nebensächlich. Das unterstrich ein chilenischer Teilnehmer, der in seinem Vortrag feststellte: "Atlantis war Israel."

Wenig verwunderlich also, dass auch die nur bedingt ironisch gemeinte Theorie kursierte, die DDR sei Atlantis gewesen. Die These kommt Platons Hintergedanken sogar recht nahe, folgt man Yair Schlein von der Open University in Israel.

Der Philosoph deutete die Geschichte als Gleichnis, mit dem Platon zeigen wollte, dass in jedem Gemeinwesen der Keim des Niedergangs angelegt sei. Das "selbst-zerstörerische Wesen von Atlantis" lasse sich auch bei Personen erkennen, erläuterte Schlein. Bei Atlantis-Theorien wohl ebenso - sie waren bisher fast alle dem Untergang geweiht.

Allerdings gibt es womöglich eine Ausnahme: Die Hamburger Wirtschaftswissenschaftler Siegfried und Christian Schoppe vermuten, Atlantis habe an der Nordküste des Schwarzen Meeres gelegen und sei vor 7500 Jahren vom rasant ansteigenden Meer verschluckt worden.

Seinerzeit lag das Schwarze Meer 130 Meter tiefer als heute, bis Wasser aus dem Marmarameer hineinströmte und rund 100.000 Quadratkilometer Ackerland - das entspricht gut einem Viertel der Fläche Deutschlands - in kürzester Zeit überschwemmte.

Das fehlende Ortsschild

Tatsächlich hat der Meeresgeologe Robert Ballard im Schwarzen Meer in rund 100 Meter Tiefe Überreste steinzeitlicher Siedlungen entdeckt - ein Beweis, dass Menschen vom Wasser vertrieben wurden.

Die Flut führte dann dazu, vermuten die Schoppes, dass sich die indoeuropäischen Sprachen von der Schwarzmeerküste aus in alle Richtungen ausbreiteten. Atlantis habe demnach am einstigen gemeinsamen Delta der Flüsse Bug, Dnjepr und Dnjestr gelegen.

Die Fakten aus Platons Geschichte passen zum Fundort wie die Zeit - nach altägyptischer Rechnung. "Nur das Ortsschild haben wir noch nicht geborgen", sagt Siegfried Schoppe. Die Deutschen haben daher wohl derzeit die besten Chancen, in Schliemanns Spuren zu treten.

Doch womöglich hatte das große Vorbild Atlantis bereits selbst entdeckt. Einer der wenigen robusten Atlantis-Theorien zufolge ist die versunkene Stadt nämlich gleichbedeutend mit Troja. Vielleicht aber ist alles ein großes Missverständnis.

Der Philosoph Amihud Gilead von der Universität Haifa jedenfalls sticht eine Nadel in den Atlantis-Ballon. Atlantis sei ein Sinnbild Platons dafür, dass uns die Erkenntnis der Wahrheit unmöglich sei. Die aufreibende Suche nach der versunkenen Stadt untermauert diesen Gedanken eindrucksvoll.

© SZ vom 27.7.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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