"Was wäre, wenn":Fünf Minuten in die Zukunft

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Was wäre, wenn der Mensch dank neuronaler Technik fünf Minuten in die Zukunft schauen könnte? Er könnte sich dann vor vielen falschen Entscheidungen schützen. Doch ist ein Leben ohne Überraschungen wirklich lebenswert?

Von Kathrin Zinkant

"Freiheit". Harry schnaubte verächtlich, als er vor sein Haus trat. Als dieses Wort zum letzten Mal auch nur annähernd einen Sinn ergeben hatte, war er gerade neu nach Boston gekommen - jung und voller Tatendrang. Eingeladen, mit einigen der weltweit führenden Neuroinformatikern am MIT Geschichte zu schreiben. Dank neuer Datenverarbeitungsmethoden war offenkundig geworden, dass man für kleine Reisen in die Zukunft keine Zeitmaschine brauchte. Man musste einfach nur ins Hirn der Leute sehen.

Die hyperkomplexen Aktivitätsmuster der eigenen Neuronen gaben den Menschen tatsächlich schon Minuten im Voraus vor, was sie tun würden. Es war faszinierend und ernüchternd zugleich. Denn die Erkenntnis bedeutete auch: Ein freier Wille existierte nicht. Jedenfalls nicht so.

Doch Harry und seine Kollegen hatten damals noch geglaubt, dass sie den menschlichen Willen aus diesem Dilemma würden befreien können. Das Team entwickelte eine Art Neuroscanner, einen winzigen Chip, der sich unter die Schädeldecke pflanzen ließ und seine Daten an einen zentralen, hochgesicherten Rechner sendete. Nach zwei Jahren konnten sie anhand der Daten verschiedener Personen ganze Szenarien berechnen, die sich innerhalb der nächsten fünf Minuten ereignen würden.

Kein Platz mehr für Überraschungen

Die ersten Tests hatten an Sexualstraftätern stattgefunden, mit sensationellen Erfolgen. Die Männer wussten Minuten vorher Bescheid, wann sie ihre nächste Tat begehen würden - und sie wussten, dass der Zentralcomputer es wusste. Sie hatten die Chance, sich gegen das eigene Programm zu entscheiden. Der Mensch war nunmehr in der Lage, sich bewusst gegen die eigene Schwächen zu kehren, gegen falsche Entscheidungen aller Art. Seitensprünge, Ernährungssünden, Autounfälle, selbst der Bruch mit den guten Vorsätzen im neuen Jahr - es gab quasi nichts mehr, was sich nicht verhindern ließ. Was hätte das anderes sein sollen, als die wahre Freiheit?

Ja, sie waren Narren gewesen. Als sie erkannten, dass sie der Menschheit ein neues Gefängnis gebaut hatten, war es schon zu spät. Jeder trug inzwischen einen Chip in seinem Kopf, sie alle lebten nun in einer Fünf-Minuten-Ereignisblase, unter totaler Kontrolle, in der kein Platz mehr für Überraschungen war, für Glück, für Gefühle - für die Liebe.

Jetzt, fast zehn Jahre später, versuchte Harry sich auf die welkenden Geranien in den Blumenkästen zu konzentrieren. Auf das Hier und Jetzt, in dem er alles verloren hatte. Seine Frau. Die Hoffnung. Er wusste, was er in wenigen Minuten tun würde. Und er nahm sich die Freiheit, es einfach geschehen zu lassen.

© SZ vom 03.01.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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