Waldlabor:In der botanischen Kampfzone

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Das Laubdach der Bäume ist eine wichtige Schnittstelle zwischen Erde und Himmel. Was passiert da eigentlich?

Von Hanno Charisius

Früher versorgte ein Starkstromkabel den Forschungskran im Leipziger Auwald mit Energie. Dann stiegen irgendwann die Kupferpreise, und das Edelmetall in der Leitung wurde zum begehrten Diebesgut. Als der Biologe Ronny Richter an einem Morgen zu seinem Arbeitsplatz kam, war das Kabel verschwunden. "Man weiß nie, ob man arbeiten kann, wenn man hier raus fährt in den Wald", sagt Richter. Probleme bereiten ihm auch Vandalen, die immer wieder Leitungen zerschneiden, die zu den Sensoren an den Bäumen führen. Jetzt liefert ein Generator den Strom für den Kran, der die Forscher 30 Meter hoch in die Wipfel der Bäume im Forschungswald hebt. Das kurze Verbindungskabel zwischen Motor und Stromlieferanten montieren Richter und seine Kollegen jedes Mal ab, wenn sie den Kran wieder verlassen. Zusätzlich soll eine Kamera, die auf Bewegungen reagiert, die Zerstörer fern halten. Doch Richter weiß, dass Arbeit im Freiland gefährdet bleibt.

Wenn einmal funktioniert, woran Richter derzeit arbeitet, wird er zum Forschen nicht mehr in den Wald gehen müssen. Er will ein System entwickeln, mit dem sich Baumarten aus der Luft erkennen lassen. "Jede Art hat ihre eigene spektrale Signatur", erklärt der Biologe. Jede Pflanze reflektiert Licht in anderen Farben. An diesem Muster sollen einmal selbstlernende Computerprogramme Pflanzen in Aufnahmen bestimmen können, die Drohnen, Flugzeuge oder Satelliten mit Spezialkameras liefern. Auch der Gesundheitszustand könnte sich ohne Exkursion in die Wildnis bestimmen lassen

Jeder Baum im vollverkabelten Versuchswald ist geografisch exakt vermessen und trägt eine Nummer

30 Bäume in dem 1,6 Hektar großen Waldstück hat Richter mit Sensoren ausgestattet. Die erfassen permanent die Temperatur in den Kronen, Windstärke, Licht, Luftfeuchtigkeit und den "Stammfluss", wie viel Wasser also durch den Baum strömt. Jeder Baum im vollverkabelten Versuchswald ist geografisch exakt vermessen und durchnummeriert, damit man ihn in Luftaufnahmen wiederfinden kann. All diese Daten will er mit Spektralaufnahmen aus der Luft abgleichen, damit die Computeralgorithmen lernen können, worauf sie in den Bildern achten müssen.

Den Kran braucht Richter vor allem, um die ganze Messtechnik zu installieren und instand zu halten. Weil er dazu eigens einen Führerschein gemacht hat, chauffiert er gelegentlich auch Kollegen, die diese Zusatzqualifikation nicht haben, in einer kleinen Gondel am Kranhaken durch das Blätterdach des Auwaldes. Seine neue Kollegin Nicole van Dam könnte zum Beispiel bald auf seine Hilfe angewiesen sein, wenn sie ihre Experimente zwischen den Zweigen montieren will. Die Leiterin der Forschungsgruppe "Molekulare Interaktionsökologie" am Deutschen Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (das sich als "iDiv" abkürzt) ist 2014 aus den Niederlanden erst nach Leipzig gezogen, um zu untersuchen, wie Pflanzen auf Feinde reagieren. Als die Biologin in der Gondel des Forschungskrans an ein paar Linden vorbei schwebt, sagt sie fachmännisch: "Durchlöchert wie holländischer Käse."

Van Dam ist Expertin für Insektenfraß, eines ihrer Spezialgebiete sind die Reaktionen der Pflanzen, wenn deren Wurzeln von Würmern oder Kerbtieren angenagt werden. Was verborgen im Untergrund passiert, löst eine Kaskade im gesamten Gewächs aus. In Laborversuchen hat die Interaktionsökologin nachvollzogen, wie von Insektenlarven angefressene Blätter Substanzen verströmen, die Vögel anziehen - die Fressfeinde der Fressfeinde der Pflanze. Sie nennt diese Reaktion der Pflanze einen "chemischen Hilfeschrei", schränkt aber gleich ein, dass es sicher kein eigener Lockstoff ist, den die Pflanzen im Laufe der Evolution entwickelt haben.

Eine hochauflösende Kamera am Kranarm soll die Konflikte zwischen den Blättern aufzeichnen

Wahrscheinlicher haben die Vögel gelernt: Es gibt Futter, wenn dieser spezielle Blattgeruch in der Luft liegt. Van Dam glaubt, dass der Stoff, der die Verteidiger der Pflanze anlockt, eigentlich eine andere Funktion hat, nämlich Bakterien abzuwehren, damit die sich in den Blattwunden nicht ausbreiten. Chemisch sind diese Stoffe eng verwandt mit Terpenoiden, eine sehr weitverbreitete Gruppe von Naturstoffen, die von Bakterien auch zur Kommunikation genutzt wird. Die Forscherin glaubt deshalb, dass Pflanzen diesen Abwehrmechanismus irgendwann von Bakterien geerbt haben. Diese universelle Molekülausstattung in der Natur vergleicht van Dam mit der Tastatur eines Klaviers. "Man hat ein Instrument, und kann damit alles spielen: Jazz, Klassik oder Rock 'n' Roll."

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Die Kamera soll Vandalen abschrecken.

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Sensoren messen den Flüssigkeitstransport im Stamm

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In den Wipfeln hängen Insektenfallen. Fotos: Volker Hahn/IDIV, Hanno Charisius

Im Leipziger Auwald möchte die Wissenschaftlerin herausfinden, ob auch im Freiland passiert, was sie im Labor beobachten konnte. Sie plant, mit Larven besetzte Zweige in Plastikfolie einzuwickeln, um die freigesetzten Substanzen einzufangen und später im Labor analysieren zu können. "Am besten geeignet sind dafür Bratschläuche aus dem Supermarkt, weil sie selbst keine Chemikalien abgeben und nicht mit den Pflanzenstoffen reagieren."

Der Krieg zwischen Pflanzen und ihren Feinden ist nicht der einzige Konflikt im Auwald. "Wir machen gerade eine unfreiwillige Feldstudie", sagt iDiv-Direktor Christian Wirth. Weil die Flüsse des Auwaldes immer weniger Wasser führen, haben plötzlich Baumarten eine Chance, die nicht auf nassen Böden wachsen können. Deshalb "verahornt" der Auwald gerade, wie Wirth sagt. Spitz- und Bergahorn unterwachsen den alten Bestand. Ihnen geht es im lichten Wald mit trockenen Füßen gut. Doch wenn sie einmal durch das Laubdach gewachsen sind, werden sie mit ihren dichten Kronen den kleineren Bäumen das Licht wegnehmen. Wirth ist gespannt, wie die einzelnen Bäume auf die neuen Konkurrenten reagieren werden. "Stülpt sich der eine Baum über den anderen, oder wachsen sie ineinander? Und was passiert in den Kampfzonen?" Damit meint er die Bereiche, wo sich die Zweige zweier Bäume direkt berühren und durch die Bewegungen des Windes aneinander reiben. Anhand der Entwicklung der Triebe können Botaniker etwa fünf bis sechs Jahre in die Vergangenheit zurückblicken und das Geschehen rekonstruieren. Wirth überlegt, eine hochauflösende Kamera an den Kranarm zu montieren, um die Ereignisse in den botanischen Kampfgebieten zu dokumentieren.

Die Ergebnisse sollten sich zumindest teilweise aus dem recht speziellen Ökosystem deutscher Auwald auch in andere Regionen der Welt übertragen lassen, hofft Wirth. Überall auf dem Planeten kämpfen Bäume gegen Feinde, verbünden sich mit Alliierten und konkurrieren um Ressourcen. Gut 20 Forschungskräne gibt es inzwischen weltweit, sieben wurden erst in den letzten Jahren in China errichtet. "Da geht gerade viel Networking los", sagt Wirth. Man will Erkenntnisse austauschen, zusammenarbeiten - um vielleicht irgendwann den Wald hinter all den Bäumen zu sehen.

© SZ vom 16.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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