Ursachen der Krise:Kollaps aus dem Nichts

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Weltweit taumeln die Aktienkurse und niemand weiß, was noch alles kommt. Die globale Finanzkrise zeigt: Ihre zunehmende Komplexität macht moderne Gesellschaften zerbrechlich.

H. Breuer und A. Stirn

Am Anfang waren es nur ein paar geplatzte Hypotheken, einige Hausbesitzer an der Ostküste der USA, die die Zinsen für ihre Immobilien nicht mehr bezahlen konnten. Heute, mehr als ein Jahr später, ist Lehman Brothers, die viertgrößte amerikanische Investmentbank, pleite.

Auch an der Wall Street: Lokale Probleme können schnell zum globalen Desaster anwachsen. (Foto: Foto: AP)

Zuvor sind bereits Schweizer Bankdirektoren zurückgetreten, die Düsseldorfer Mittelstandsbank IKB musste mit mehr als zehn Milliarden Euro vor dem Konkurs gerettet werden. Weltweit taumeln die Aktienkurse, es droht eine globale Finanzkrise. Und das Irre daran: Niemand weiß, was noch alles kommt.

Das ist die Botschaft aus der Finanzwelt: Eine moderne Zivilisation muss gar nicht wegen der üblichen Katastrophen-Szenarien in die Knie gehen - Klimawandel, Atomkrieg oder Pandemie.

Allein die wachsende Komplexität moderner Gesellschaften ist ein Sicherheitsrisiko, warnen Systemtheoretiker, Historiker und Ökonomen.

Die Vernetzung und zunehmende Abhängigkeiten in modernen Gesellschaften führen dazu, dass die Folgen von Entscheidungen unabsehbar werden und - so wie bei der Finanzkrise - lokale Probleme schnell zum globalen Desaster anwachsen.

"Komplexe Systeme sind hochsensibel", sagt der Wissenschaftstheoretiker Klaus Mainzer von der Technischen Universität München, "die kleinsten Ursachen können zu globalen Veränderungen führen." Die Kunst liege daran, die Risiken möglichst gut zu verteilen.

Noch bis in die 1980er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts nahmen Finanzmathematiker an, dass sich die Entwicklungen an den Börsen gegenseitig kaum beeinflussen. Sie nutzten ein einfaches Modell der Zufallsverteilung, berichtet Mainzer. Krisen wurden ausgesessen, etwas Dramatisches - so die lange Zeit berechtigte Hoffnung - werde nicht passieren.

Heute ist jedoch klar, dass es zu sich selbst verstärkenden Instabilitäten kommen kann. Historische Vorbilder für solche Abläufe gibt es zuhauf. Den Römern, die eine komplexe Zivilisation mit einer riesigen Verwaltung aufgebaut hatten, mussten vom dritten Jahrhundert nach Christus an die Besiegten in den neu eroberten Gebieten den Beamtenapparat mit Überschüssen ihres lokalen Getreideanbaus finanzieren.

Irgendwann konnten die Provinzen ihr Soll nicht mehr erfüllen. Die Verwaltung forderte immer mehr Ressourcen. Bald reichte das Getreide kaum noch aus, um Roms gewaltigen Staatsapparat zu ernähren. Die Inflation stieg dramatisch. Das Reich bröckelte und konnte den anstürmenden Barbaren nichts mehr entgegensetzen.

Wieso eigentlich, fragen Wissenschaftler wie der Archäologe Joseph Tainter, sollte modernen Gesellschaften ein Schicksal erspart bleiben, das bislang noch jeder menschlichen Kultur widerfahren ist - dem römischen Imperium, dem alten Ägypten, der Welt der Inkas und der Mayas, den Anasazi Nordamerikas und dem byzantinischen Reich?

Auch in den westlichen Industriegesellschaften gebe es sinkende Erträge, warnt Tainter. Seit Jahrzehnten falle zum Beispiel die Zahl der erteilten Patente, gemessen an den investierten Forschungsgeldern. Und immer größere Investitionen in das Gesundheitssystem führten zu stetig kleineren Erfolgen. Die Entdeckung einfacher, doch hochpotenter Mittel wie des Penicillins kostete einst nur 20.000 Dollar. Heute verschlingt die Entwicklung eines Medikaments Hunderte Millionen Euro.

Der Effekt explodierender Kosten bei immer weniger Nutzen zeigt sich auch bei den Rohstoffen: Im Texas der 1930er-Jahre musste nur die Energie eines Barrels Erdöl aufgewendet werden, um 100 Barrel Öl aus der Erde zu pumpen. Heute sind es bereits 17.

Störungen greifen rasch auf andere Bereiche über

"Wir leben in einer hochkomplexen Weltgesellschaft, die sich exakt auf die bestehende Umwelt eingestellt hat", warnt der Krisenexperte Thomas Homer-Dixon von der University of Toronto. "Doch die Randbedingungen wandeln sich rapide - und unsere Zivilisation ist womöglich nicht flexibel genug, sich ohne enorme Verluste anzupassen."

Es sei eine Schwäche moderner Gesellschaften, dass ihre Systeme zunehmend dicht verwoben sind, was Störungen an einem Ort rasch auf andere Bereiche übergreifen lässt und Krisen immer unberechenbarer macht, sagt der amerikanische Biologe und Mathematiker Peter Turchin von der University of Connecticut. "Nichtlinear" nennen Systemtheoretiker solche Vernetzungen.

Das Risiko wird, wie der amerikanische Organisationssoziologe Charles Perrow bemerkt, umso größer, je enger die Elemente eines Systems zusammenhängen. Internationale Netze, die früher Versorgungssicherheit etwa bei Ernteausfällen garantierten, reagieren mittlerweile derart nervös, dass sie eine lokale Krise nicht abfedern, sondern im Gegenteil verstärken bis hin zum Kollaps des Systems. Das kann auch in Finanzmärkten, Stromnetzen und Industriezweigen passieren.

Immer mehr solcher Netze werden aus Kostengründen ohne Spielraum gefahren. So ist die globale Industrie heute auf ständigen Materialfluss eingestellt, weil Lagerkosten minimiert werden. Der Handyhersteller Ericsson verlor vor acht Jahren 400 Millionen Euro, nur weil die Fertigungshalle eines einzigen Halbleiterzulieferers in den USA in Flammen aufgegangen war. Stromverbünde galten einst als stabil, da viele Kraftwerke Strom einspeisen und Ausfälle kompensieren können.

Doch im August 2003 widerlegten dies ein paar Baumwipfel in Ohio. Ungestutzte Äste waren mit vier Hochspannungsleitungen ins Gehege gekommen, und mehr als 250 Kraftwerke fielen aus. Das öffentliche Leben in großen Teilen Kanadas und der USA einschließlich der Stadt New York stand still.

Als eine Ursache für den Black-out sahen Experten damals die Deregulierung des Stromnetzes. Dadurch beteiligten sich insgesamt 6000 Kraftwerke am Markt, die ihren Strom je nach Bedarf kreuz und quer über den Kontinent schickten. "Um mit einem solch komplexen Netz zurechtzukommen, hätten die Techniker die Reflexe eines Kampfpiloten gebraucht, der ein schwerbeschädigtes Flugzeug unter Kontrolle bekommen muss", kritisiert Homer-Dixon.

Eine Stunde bei Kerzenschein mag noch romantisch sein, nach ein paar Tagen ohne Strom aber wird es ernst. Die Nahrungsversorgung für Stadtbewohner versiegt nach durchschnittlich drei bis vier Tagen, sagen amerikanische Katastrophenschützer. Viele Notstromaggregate laufen nur so lang, wie Treibstoff angeliefert werden kann. Ist auch die Trinkwasseraufbereitung abhängig vom Strom, drohen Seuchen.

Auch das Internet schafft globale Abhängigkeiten. Als Ende Januar dieses Jahres zwei Mittelmeerseekabel im Suezkanal von einem Schiffsanker gekappt wurden, musste fast der gesamte Datenverkehr zwischen Europa und Indien auf den Umweg Atlantikkabel-USA-Pazifikkabel umgeleitet werden.

Was, wenn ein paar Spezialisten gleichzeitig krank werden?

Für die meisten sensiblen Unternehmen wie Finanzdienstleister und Broker, bei denen Minuten über Millionenumsätze entscheiden, verlief die Sache glimpflich, "weil sie Ausweichmöglichkeiten, zum Beispiel Back-up-Verbindungen via Satellit oder Telefon, nutzten", sagt Andreas Schlayer, IT-Experte der Münchener Rück. "Die Länge des Ausfalls führte dennoch zu einem kaum bezifferbaren Gesamtschaden, viele Provider wurden vom Ausmaß des Ereignisses überrascht."

Zusätzliche Technik allein wird solche Probleme nicht lösen - auch weil moderne komplexe Systeme eine weitere Schwachstelle haben: den Menschen. Er ist kein austauschbares Zahnrad im Getriebe der Welt. In Stammesgesellschaften oder in konventionellen militärischen Organisationen lassen sich sogar Führungspositionen relativ schnell neu besetzen.

Moderne Gesellschaften hingegen sind auf viele, gut ausgebildete Spezialisten und deren Zusammenspiel angewiesen. Was passiert, wenn ein paar hochspezialisierte Angestellte eines modernen Kraftwerks sich denselben Virus einfangen?

Im Laufe der Geschichte haben es manche krisengeschüttelten Gemeinschaften geschafft, weich zu landen. Als das byzantinische Reich sich den Angriffen der Araber und Perser ausgesetzt sah, entschied Kaiser Konstans II. im siebten Jahrhundert, den Staatsapparat abzuspecken. Er feuerte einen Großteil seiner Beamten, kürzte den Lohn seiner Soldaten und gab ihnen dafür Ländereien.

Derart sesshaft geworden, verteidigte fortan eine Bauernwehr den umgekrempelten Staat. Doch viele Menschen wurden zu Analphabeten, der Lebensstandard im byzantinischen Reich verschlechterte sich. Als Rezept für die Zukunft der heutigen Industrienationen erscheint diese Option wenig attraktiv.

Doch Homer-Dixon warnt vor Panik. Er schlägt vor, ein paar ganz pragmatische Regeln einzuhalten: Lebenswichtige Güter wie Lebensmittel und Energie sollten möglichst dezentral produziert werden.

Unternehmen sollten ihre Logistik nicht bis zum letzten Cent auf "just-in-time" trimmen, sondern größere Lager halten, damit die Produktion bei Zulieferproblemen nicht sofort ins Stocken gerät.

"Wir sollten zurückhaltender dabei sein, kritische Systeme immer enger zu vernetzen und zu beschleunigen, denn wir sollten uns klar darüber sein, dass in einer übereffizienten Welt auch die Katastrophen sehr effizient sein können."

© SZ vom 17.09.2008/mcs - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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