Tschernobyl:Die Rätsel der Radioaktivität

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Die einen Experten vermuten 4000 Krebstote, die anderen 93.000. Die Folgen der Strahlen sind schwer abzuschätzen. Klar ist, dass die Betroffenen des Nuklear-Unfalls betreut und immer wieder untersucht werden müssen - ihr Leben lang.

Christopher Schrader

Wer in jenen Tagen in Pripjat, Gomel oder Bryansk nicht gerade einen Geigerzähler in der Tasche hatte, konnte die Gefahr kaum ermessen. Für Radioaktivität besitzt der Mensch kein Sinnesorgan, nichts warnt ihn davor, verstrahlte Milch zu trinken, nichts hält ihn an, vor einer Wolke zu fliehen, die Geigerzähler zum wilden Knattern bringt.

Ein verlassener Kindergarten in der Stadt Pripyat: Die Opfer von Tschernobyl sind noch gar nicht geboren. (Foto: Foto: dpa)

Auch die sowjetischen Behörden, die die Bedeutung des Unfalls im Block vier des Kernkraftwerks Tschernobyl kannten, ließen sich Tage Zeit mit der Evakuierung betroffener Orte; darum war und ist die Gesundheit von etwa sieben Millionen Menschen der Dreiländer-Region Ukraine, Weißrussland und Russland bedroht.

Wie groß die Gefahr tatsächlich ist, weiß aber niemand genau. Experten verschiedener Denkschulen haben vor dem 20. Jahrestag der Explosion lautstark gestritten - 4000 bis 93.000 Krebstote nannten sie als Folge des Nuklear-Unglücks.

Eine Reihe von Fakten ist freilich unumstritten: Bei der Explosion und dem Brand wurde eine gewaltige Menge strahlender Nebenprodukte der Kernspaltung aus dem Reaktor geschleudert. Physiker messen Radioaktivität in Becquerel, das ist die Menge Material, durch die ein Zerfall pro Sekunde entsteht.

Freigesetzt wurden vierzehn Milliarden Milliarden (1018) Becquerel, wie UN-Organisationen berechnet haben. Ein gutes Zehntel machte Jod-131 aus, ein Sechzigstel stammte von Cäsium-137. Von den Mengen her erscheinen die Stoffe fast harmlos: 383 Gramm Jod und 26,4 Kilogramm Cäsium gelangten in die Umwelt.

Kleine Menge, großer Schaden

Das Missverhältnis zwischen Masse und Gefährlichkeit ergibt sich aus der Zerfallsrate, denn jedes zweite Jod-131-Atom zerfällt binnen acht Tagen, bei Cäsium-137 dauert das 30 Jahre.

Die Mengen mögen klein erscheinen, doch sie legten einen Strahlenteppich über ganz Europa. Besonders betroffen war die Region um das Kraftwerk: Dort sind 146.300 Quadratkilometer verseucht, von der 30-Kilometer-Sperrzone um den Reaktor bis zu Landstrichen der Zone IV, in denen die Radioaktivität zwar überwacht wird, aus denen aber niemand umgesiedelt wurde.

Der immensen Strahlung setzten sich zunächst etwa 1000 Katastrophenhelfer aus, die den Reaktor sicherten. Obwohl sie in 90-Sekunden-Schichten arbeiteten, erkrankten 134 an akuter Strahlenkrankheit. Die Strahlung hatte ihre Darmzellen und andere, sich ständig erneuernde Gewebe zerstört; 47 von ihnen sind daran gestorben.

Bei allen anderen Menschen, die sich in der Nähe des Reaktors oder unter der Wolke des Fall-outs aufhielten, hat die Strahlung womöglich langfristige Krankheiten ausgelöst, vor allem Krebs. Denn wenn energiereiche Teilchen aus zerfallenden Atomen das Erbgutmolekül DNS treffen, kann die Zelle entarten und unkontrolliertes Wachstum auslösen.

Jodcocktail für die Schilddrüse

Die Gefahr ging zunächst vor allem vom radioaktiven Jod aus. Es erreichte schnell die Milch der Kühe und verwandelte sie in einen Strahlencocktail, den Erwachsene und Kinder mangels Warnhinweisen tranken.

Jod-131 wird vor allem von der Schilddrüse aufgenommen, bis heute sind etwa 4000 Menschen in der Region an einem Tumor der Drüse erkrankt. Bei vielen war er ungewöhnlich aggressiv; neun Kinder sind bislang daran gestorben. Ihre Schilddrüse war einer Dosis von durchschnittlich 700 Millisievert ausgesetzt, bei manchen waren es sogar bis 15.000 Millisievert. Zum Vergleich: Die natürliche Hintergrundstrahlung beträgt im weltweiten Mittel etwa zwei Millisievert.

600.000, oft zwangsrekrutierte Arbeiter räumten dann die Region auf. Diese "Liquidatoren" bekamen Strahlung vor allem durch das langsamer verschwindende Cäsium-137 ab. Ihre Dosis lag nach UN-Angaben im Schnitt bei 100 Millisievert, Einzelne jedoch erhielten mehr als 500 Millisievert. Die Strahlendosis der in Sicherheit gebrachten Menschen schließlich betrug durchschnittlich 33 Millisievert.

Der 12Jährige Yuriy wird in einer Klinik in Donetsk behandelt. Er leidet an Leukämie. (Foto: Foto: dpa)

Welche Langzeitfolgen eine derartige Strahlenbelastung mit sich bringt, ist umstritten. Das "Tschernobyl-Forum", ein Zusammenschluss von UN-Organisationen und Regierungen unter Leitung der Internationalen Atomenergieagentur (IAEA), veröffentlichte dazu im vergangenen Herbst die Kurzfassung einer Studie.

Demnach werden insgesamt etwa 4000 Menschen an den Folgen der Strahlung sterben. Diese Zahl, die weitaus niedriger als frühere Schätzungen lag, so zu publizieren, hat IAEA-Sprecherin Melissa Fleming im Magazin Nature als "eine mutige Aktion" bezeichnet.

Die Forscher aber, von denen die Zahlen stammten, protestierten. 4000 zusätzliche Todesfälle bezogen sich nur auf Liquidatoren, Evakuierte und Bewohner von Zonen, in denen eine Evakuierung empfohlen worden war. Weitere 5000 Todesfälle seien bis 2065 in der größeren Zone IV zu erwarten, und noch einmal 7000 im Rest Europas, wie die Forscher um Elisabeth Cardis vom Internationalen Krebsforschungszentrum in Lyon vor wenigen Tagen bekannt gaben.

Statt der insgesamt 16.000 Toten könnten es aber auch 38.000 sein, räumen Cardis und ihre Kollegen ein, weil ihre Prognose auf unsicheren Annahmen basiert.

Auswirkungen über Jahrzehnte

Anti-Atomkraft-Aktivisten wie Greenpeace oder IPPNW (Internationale Ärzte zur Verhinderung eines Atomkriegs) hingegen verweisen darauf, dass die Krebsrate schon jetzt drastisch angestiegen sei: in ganz Weißrussland auf das 1,4-Fache, in Teilen der Ukraine sogar auf das 2,9-Fache.

Gut 34.000 der Liquidatoren seien bereits gestorben, verzeichnet die Ukrainische Kommission für Strahlenschutz. Greenpeace nannte daher als Schätzung bis zu 93.000 zusätzliche Krebstote weltweit und berief sich auf die Weißrussische Akademie der Wissenschaften.

Zwei wesentliche Lücken führen zu den abweichenden Schätzungen. Erstens wissen Forscher nicht genug über die Wirkung der relativ kleinen Dosen, die viele der Bewohner der Region und erst recht im übrigen Europa abbekommen haben.

Und zweitens sind bisher nur einmal viele Menschen auf einmal verstrahlt worden, nämlich in Hiroshima und Nagasaki. Dort gibt es eine internationale Stiftung, die das Schicksal der Überlebenden verfolgt. Ihre Experten sind immer wieder davon überrascht worden, dass noch Jahrzehnte nach den Explosionen plötzlich die Raten einzelner Krebsarten anstiegen.

In Tschernobyl dagegen gibt es keine internationale Organisation, um die Folgen des Unfalls zu untersuchen. Von Hiroshima können Forscher nur begrenzt lernen, weil die Opfer der Reaktorkatastrophe im Gegensatz zu den Menschen in Japan viel Strahlung über die Nahrung aufgenommen haben.

Darum sind sich Experten zumindest in einem Punkt einig: Die Betroffenen des Nuklear-Unfalls müssen betreut und immer wieder untersucht werden - ihr Leben lang.

© SZ vom 25.4.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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