Tropische Temperaturen:23 Grad am Nordpol - warm, nicht kalt

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Forscher lesen das Tagebuch der Erde und entdecken: Das Arktische Meer war früher zum Baden schön.

Axel Bojanowski

Am Nordpol gebe es eine Öffnung, behauptete der Amerikaner John Cleve Symmes vor 200 Jahren. Zwar glaubt heute niemand mehr, man könne dort ins Erdinnere gelangen, doch letztlich sollte Symmes Recht bekommen.

Urlaubsstimmung im hohen Norden. Baden will hier allerdings keiner mehr. (Foto: Foto: AP)

Denn im August 2004 haben europäische Meeresforscher vier Löcher in den Grund des Arktischen Ozeans getrieben - 250 Kilometer vom Nordpol entfernt.

Ihr Bohrgerät war innen hohl wie ein Apfel-Entkerner und lieferte den Wissenschaftlern insgesamt 428 Meter lange, beindicken Stangen aus Lehm, die sie mittlerweile genau untersucht haben. Nun können die Forscher die Klimageschichte des Nordens 56 Millionen Jahre zurückverfolgen. Alte Erdkundebücher haben ausgedient.

Der Aufwand für die Arktische Bohrexpedition (ACEX) war immens. Zwei Eisbrecher mussten das Bohrschiff Vidar Viking ständig umkreisen, damit es nicht vom Treibeis zerquetscht wurde.

Der Bohrer senkte sich unter einem Kilometer Wasser in den Schlamm des Lomonossow-Rückens, eines fast alpenhohen Unterseegebirges. Im Herbst 2004 landeten die Bohrkerne, die in anderthalb Meter lange Abschnitte zerlegt worden waren, an der Universität Bremen, wo 33 internationale Experten sie chemisch und unter dem Mikroskop untersuchten.

Die Kerne wurden der Länge nach geteilt. Die so genannten Archivhälften liegen seither im Bohrkernlager, aus den anderen Hälften der Bohrkerne stanzten die Forscher alle paar Zentimeter fingergroße Stücke von hell- und dunkelbraunem Sediment, zäh wie Erdnussbutter.

Die Proben haben verschiedene internationale Instituten analysiert. Die Forscher schauten der Erde dabei quasi ins Tagebuch (Nature, Bd.441, ab S.601, 2006).

Die ältesten Lagen der Bohrstangen stammen aus dem späten Paläozän vor 56 Millionen Jahren, einer Epoche der blühenden Artenvielfalt. Der Aufstieg der Säugetiere hatte begonnen, nachdem neun Millionen Jahre zuvor die Dinosaurier ausgestorben waren.

In der Arktis herrschte subtropisches Klima mit Wassertemperaturen von 23 Grad, berichten die ACEX-Forscher. Lehrbücher schreiben hingegen, das Klima sei damals kühl gewesen.

Im Meeressediment jener Zeit fanden die Wissenschaftler Gehäuse von Planktonarten, die nur bei Wärme gedeihen. Zudem verrät der Anteil zweier unterschiedlich schwerer Arten von Sauerstoff in den Kalkschalen die Temperatur, denn Wasser mit der leichteren Variante verdunstet schneller.

Während der nächsten sieben Millionen Jahre kühlte das arktische Meer um zehn Grad ab. Verschiebungen der Erdplatten schnitten es vor 49 Millionen Jahren im Eozän fast völlig von den Ozeanen ab, ein gewaltiger Brackwassersee bedeckte den Nordpol. Die ACEX-Forscher fanden im Bohrkern sowohl Überreste eines Süßwasserfarnes, als auch Salzwasserorganismen.

Damals streiften lemurenähnliche Geschöpfe mit fünf kleinen Fingern an jeder Hand durch die Urwälder an den Küsten des arktischen Meeres - Verwandte des Menschen.

Sie und andere Tiere wurden bald nach Süden verdrängt. Denn bereits vor 45 Millionen Jahren trieb Eis auf dem Arktischen Meer, das Klima war deutlich abgekühlt. Dafür sprechen beispielsweise Kieselsteine im Bohrkern; sie können nur mit Eisbergen ins Wasser gelangt sein.

Nord- und Südpol scheinen mithin gleichzeitig vereist zu sein. Lehrbücher schreiben hingegen, die Vereisung der Arktis habe frühestens vor fünf Millionen begonnen. Die gängige Theorie von der Entstehung der großen Eispanzer ist nun hinfällig.

Überreste von Kaltwasser-Einzellern und größere Mengen Eisbergschutt im Sediment zeigen, dass die Arktis vor 16 Millionen Jahren jeden Winter und seit 3,2 Millionen Jahren fast ständig mit Meereis bedeckt war. Das Eiszeitalter hatte begonnen - und dauert bis heute an.

© SZ vom 2.6.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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