Teilchenbeschleuniger LHC:Alles auf Anfang

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Seit diesem Mittwoch läuft die Urknall-Maschine des europäischen Kernforschungszentrums Cern bei Genf: Wie es ist, wenn Elementarteilchen rasen und Physiker jubeln.

Ch. Schrader

Die Bilanz von Wissen und Unwissen trägt John Ellis auf seinem T-Shirt. Auf dem schwarzem Baumwollstoff stehen weiße Zeichen, vergrößert aus einer schnellen, aber präzisen Handschrift. Es ist eine Formel mit vier Zeilen. "Das ist das Standardmodell, mit dem Teilchenphysiker die Materie erklären", sagt der weißhaarige Physiker vom europäischen Labor für Hochenergiephysik Cern.

Ein Wissenschaftler am Cern kontrolliert die Monitore während des LHC-Testlaufs. (Foto: Foto: AP)

Er bewegt die rechte Hand unter dem weißen Vollbart vor der Brust, als zeige er mit dem Stock auf eine Tafel. "Die erste Zeile sind die Kräfte, mit denen wir es zu tun haben, die zweite sind die Teilchen, die sie vermitteln. Und dann kommt, was wir uns im Augenblick vorstellen, wo die Masse herkommt."

John Ellis ist am Cern ein Urgestein. Der Brite arbeitet hier seit "35 Jahren und zehn Tagen" und beschäftigt sich mit physikalischer Theorie. Er hat daher genaue Vorstellungen, was in den letzten beiden Zeilen auf seiner Brust stehen soll, allein es fehlt ihm die Bestätigung durch ein Experiment. Darum freut er sich, dass an diesem Mittwoch der Teilchenbeschleuniger LHC (Large Hadron Collider) seinen Betrieb aufgenommen hat.

Die Stadt Genf bekommt damit ein neues Wahrzeichen, weniger sichtbar als die Fontäne Jet d'Eau, die vor der Seepromenade jede Sekunde 500 Liter Wasser 140 Meter senkrecht in den Himmel schleudert. Um zum LHC zu gelangen, fährt man von der Seepromenade knapp 40 Minuten Bus. Im Vorort Meyrin, kurz vor der französischen Grenze, an der Endhaltestelle der Linie 56, befindet sich Cern. Hier liegt, unter der Grenzregion zwischen der Schweiz und Frankreich die größte und teuerste Maschine der Welt vergraben. 27 Kilometer im Umfang, drei Milliarden Euro Baukosten.

Der Start nach annähernd zehn Jahren Vorbereitung macht Genf an diesem Tag zur Welthauptstadt aufgekratzter Physiker. Sie starren gemeinsam auf Bildschirme, sie jubeln, johlen, klatschen. Sie zerren Besucher vor ihre Monitore und erklären, was da Sensationelles zu sehen ist: blaue Strahlen, grüne Linien, gelbe Zacken, rote Kreise, lila Rechtecke.

"Wir haben jahrelang unsere Messgeräte geplant und mit unserem Herzblut gebaut", sagt zum Beispiel Alessandro Cardini von der Universität Cagliari. "Und jetzt funktionieren sie bei der ersten Gelegenheit, beim ersten Schuss." Ähnlich enthusiastisch ist Felicitas Pauss von der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich. Aus dem schematischen Bild ihres Detektors scheinen blaue Strahlen zu explodieren. "Genau so haben wir uns das vorgestellt." Nur hatte das CMS genannte Messgerät bisher noch nie die Chance, sich zu beweisen.

Es geht um Parallel-Universen, Antimaterie und etliche Dimensionen

Für eine ganze Generation von Physikern soll die Maschine die Tür zu neuen Entdeckungen aufstoßen, soll Experimente erlauben, die nie zuvor möglich waren. Es geht um Parallel-Universen, Antimaterie, dunkle Energie und eine Welt mit mehr als drei Dimensionen.

Noch nie haben Forscher irgendetwas auf der Erde so stark beschleunigt wie es am LHC vorgesehen ist. In zwei parallelen Rohren sollen dort Bündel von Protonen, also Kerne von Wasserstoffatomen, kreisen. Sie kratzen dabei am ultimativen Tempolimit des Universums, der Lichtgeschwindigkeit. 99,99999911 Prozent davon sollen sie erreichen, das sind 299.792 Kilometer pro Sekunde. Die Energie, die dann in einem Bündel steckt, entspricht der von 22 Litern Wasser, die der Fontänenstrahl des Jet d'Eau in den Himmel schleudert, obwohl das Bündel weniger wiegt als drei Billiardstel eines darin enthaltenen Tropfens.

Der Zweck der gigantischen Maschinerie ist es, die Teilchen im Tunnel des LHC, 100 Meter unter der Erde, kollidieren zu lassen. Aus den Trümmern soll unbekannte Materie entstehen, anhand derer die Physiker verbleibende Rätsel ihrer Wissenschaft lösen. Diese Aussichten und die verbreiteten Superlative haben aber auch Ängste ausgelöst.

Der CMS, eines von sechs Detektoren des LHC. (Foto: Foto: ddp/Cern)

Das Cern-Management hat daher die Welt zum Start der Maschine eingeladen. "Zum ersten Mal wird ein solcher Beschleuniger vor den Augen der Weltpresse gestartet", sagt die britische Physikerin Christine Sutton, die als Pressesprecherin fungiert.

Die Verantwortlichen mussten sich also sicher sein, dass sie den Start in den zeitlichen Zwängen der angereisten 260 Journalisten bewältigen. Bei der Vorgängermaschine hatten sie noch zwölf Stunden gebraucht, um sie in Betrieb zu nehmen.

Beim LHC brauchen sie 54 Minuten, kurz vor halb elf ist das erste Ziel erreicht: Im Inneren der Maschine legen zum ersten Mal Protonen eine gesamte Runde von 27 Kilometern am Stück zurück. Das dauert weniger als eine Zehntausendstel Sekunde, viel länger braucht die Elektronik, die Signale der Sensoren an der Strecke auszuwerten und auf die Bildschirme zu projizieren. Im Kontrollraum liegen sich die Ingenieure und Wissenschaftler in den Armen. Sie haben einen Strahl, wie sie das nennen. Nachmittags um 15 Uhr ist auch die Gegenrichtung geschafft.

"Ich bin der Strahlpilot"

Auch Markus Albert strahlt. Der Mann vom Schliersee ist seit 15 Jahren am Cern. Jetzt hat er von einem anderen Beschleuniger auf den LHC umgeschult; am Freitag hat er seine erste reguläre Schicht als Operator. "Ich bin dann sozusagen der Strahlpilot", sagt er. Heute erklärt er, auf welche Bildschirme die Besucher achten sollen.

Hemdsärmlig steht er da, seinen Trachtenjanker hat der Physik-Ingenieur abgelegt. Die Protonen kommen am LHC im 48-Sekunden-Takt an; in diesem Rhythmus entlässt sie ein Vorbeschleuniger. Gelbe Zacken auf einem Bildschirm zeigen an, wann es wieder so weit ist, grüne Linien auf einem Balkendiagramm verraten dann, wie sauber die Protonen im Tunnel die Kurven genommen haben. Als diese grünen Balken den Bildschirm von links nach rechts überspannen, weiß Albert, dass sie es geschafft haben.

Der Mann, der dafür verantwortlich ist, hat sich fein gemacht. Zur Feier des Tages trägt Lyn Evans ein weißes Hemd mit braunen Streifen, Jeans und Turnschuhe. An anderen Tagen, berichten Vertraute, sehe man den Waliser meist in T-Shirt und Shorts.

Evans leitet das Projekt LHC seit 1994, jetzt steht er im Kontrollraum, umgeben von Menschen aus Spanien, Italien, Österreich, Deutschland und vielen anderen Nationen, die auf ihre Computer starren. Stolz ist er besonders auf zwei Dinge. "Der LHC ist eine riesige internationale Anstrengung", sagt er. "Hier haben Menschen aller Rassen und Religionen mitgearbeitet." Und: "Wir haben die vorhandene Technologie an ihre Grenzen getrieben." Die ganze Maschine ist ein Prototyp, der niemals in Serie gehen kann, an dem die Forscher jede Macke per Hand ausbügeln müssen.

Das beginnt bei den Komponenten, die die Protonen unten im Tunnel auf Kurs halten. Über 9000 Elektromagnete sind dort installiert. Gut 1200 davon sind 15 Meter lange Röhren, in deren Inneren die gewundenen Kabel auf minus 271 Grad heruntergekühlt worden sind.

Nur so können sie die enormen Ströme verlustfrei leiten, die den Magneten die Kraft geben, Teilchen fast bei Lichtgeschwindigkeit auf eine Kreisbahn zu zwingen. Erst wenn die Strahlen stabil genug in beide Richtungen kreisen, in ein paar Wochen, dann sollen sie auch in beide Richtungen gleichzeitig kreisen und kollidieren.

600 Millionen mal pro Sekunde soll es dann im Tunnel des LHC einen solchen Crash geben, aber nur 100 davon werden später ausgewertet. Beim überwältigenden Rest muss die Elektronik der Messgeräte blitzschnell entscheiden, sie unwiderruflich zu verwerfen. Und selbst die Daten dieser 100 Kollisionen pro Sekunde kann das Cern selbst nicht speichern. Die Zahlenwerte werden sofort in 130 Rechenzentren in 35 Länder weitergeschaufelt.

Dieser technologische Aufwand ist kein Selbstzweck. Tausende Physiker brennen darauf, die Daten der Kollisionen auszuwerten. Wo die Protonen frontal zusammenstoßen, zerstören sie sich gegenseitig. Für einen Moment ist dann da pure Energie, aus der gemäß dann Einsteins Formel E=mc2 alles Mögliche entstehen kann. Mit ihren Messgeräten, deren Dimension Kirchenschiffe übertrifft, versuchen die Physiker, die neugeschaffenen Materiefetzen und sämtliche Trümmer der Kollisionen aufzufangen, zu bestimmen und einzuordnen.

Was geschah nach dem Urknall?

Die Fragen, die die Forscher so beantworten wollen, betreffen die Grundstruktur des Universums. Was geschah unmittelbar nach dem Urknall? Warum besteht heute die Welt vor allem aus einer Sorte Materie, wo doch damals zwei Sorten in gleicher Menge entstanden sein mussten? Woraus besteht der Rest des Universums, von dem die Menschheit noch keine Kenntnis hat?

"Was auch immer der LHC findet - oder nicht findet -, wird uns etwas über die Struktur des Universums verraten", hat der berühmte, gelähmte Physiker Stephen Hawking gesagt. "Sowohl dieser Beschleuniger als auch das Weltraumprogramm sind nötig, damit die Menschheit nicht verkümmert und schließlich ausstirbt."

Eine der ersten Funde am LHC könnte ein rätselhaftes Elementar-Teilchen werden, von dem die dritte und vierte Zeile auf John Ellis' T-Shirt handeln: das Higgs-Boson. Es ist von dem schottischen Physiker Peter Higgs bereits 1964 vorgeschlagen worden, um die Masse der Elementarteilchen zu erklären.

Physiker benutzen gern das Beispiel einer Cocktail-Party, um den Mechanismus zu erklären. Während sich ein Unbekannter ungestört zwischen den Teilnehmern bewegen kann, würden sich einem bekannten und beliebten Neuankömmling immer wieder Gäste zuwenden, ihn in Gespräche verwickeln und sein Vorankommen behindern; er wirkt also irgendwie schwerer.

So ähnlich, nehmen Physiker an, bekommen auch Elementarteilchen ihre Masse, indem sie das Higgs-Feld durchqueren und Higgs-Bosonen austauschen. "Mit den ersten beiden Zeilen der Formel auf meinem T-Shirt sind wir Physiker extrem erfolgreich gewesen, das bekannte Universum zu erklären", sagt John Ellis. "Darum bin ich sicher, dass wir bald etwas finden, das den anderen beiden Zeilen entspricht - auch wenn es dann etwas anders aussieht, als was hier steht." Er blickt noch einmal an seiner Brust herunter. Ellis wird sich in diesem Fall mit Freuden ein neues T-Shirt machen lassen.

Größere Gefahren, die vom Cern ausgehen, sieht indes keiner der Forscher. Vor allem im Internet machen seit Monaten Gerüchte die Runde, bei den Kollisionen könnten zum Beispiel kleine Schwarze Löcher entstehen, die die Erde von innen heraus auffressen.

Gerichtsverhandlungen und Morddrohungen

Mit mindestens drei Gerichtsverfahren haben die Besorgten versucht, den Start des LHC zu stoppen, zuletzt hat der Europäische Menschengerichtshof den Antrag eines Tübinger Chemikers auf eine einstweilige Anordnung gegen Cern abgelehnt.

Der Physiker Frank Wilczek vom Massachusetts Institute of Technology in Boston hat sogar Morddrohungen wegen des LHC-Starts erhalten. Er entscheidet zwar nicht über den Start, kann also nicht erpresst werden, aber immerhin hat sich der Anrufer und E-Mail-Schreiber einen Vordenker der Teilchenphysiker für den Einschüchterungsversuch ausgewählt: Wilczek hat 2004 den Nobelpreis für eine Entdeckung bekommen, die bei der Kollision der Protonen im LHC-Tunnel entscheidend sein wird.

"Die größten Probleme hat man immer mit den Halbgebildeten", sagt John Ellis. "Die Leute benutzen den LHC als Blitzableiter für ihre irrationalen Ängste." Weder Ellis noch das Cern-Management haben sie aber deswegen abgetan. Der Physiker hat am Cern zuletzt eine offizielle Arbeitsgruppe geleitet, die sich mit den Vorwürfen und Einwänden beschäftigt hat. Das war eine Gratwanderung, sagt Ellis. Er mahnt zwar, mögliche Risiken nüchtern zu bewerten. Er gibt aber auch zu: "Manchmal mussten wir lachen, um einige der Einwände der Kritiker überhaupt verdauen zu können."

Auf diese Sorgen antwortet Ellis mit einem Gegenargument. "Die Erde wird ständig von kosmischen Teilchen getroffen, die teilweise viel mehr Energie haben als alles, was wir mit dem LHC erzeugen. Das geht schon seit Milliarden Jahren so", sagt er und breitet die Hände aus. Die Geste schließt das Publikum stellvertretend für die ganze Welt ein.

Seht her, wir sind noch da, sagt sie. Tatsächlich sei doch der Beschleuniger nur dazu da, systematisch zu untersuchen, was die kosmischen Strahlen sowieso die ganze Zeit machen. Dann steckt Ellis die linke Hand wieder in die Hosentasche. "Wenn Sie vor Sorgen mitten in der Nacht aufwachen wollen, denken Sie an etwas anderes", rät er. Der beste Weg, um die Kritik verstummen zu lassen, sei es nun gewesen, die Maschine endlich anzuschalten.

© SZ vom 11.09.2008/mcs - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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