Stammzellforschung:Bossa nova und Spitzenforschung

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Unbemerkt von führenden Labors ergründet Brasilien das Potential von Stammzellen: Ein Besuch an der Universidade Federal do Rio de Janeiro.

Richard Friebe

Auf der Nordhalbkugel ist Winter, aber hier sind es 36 Grad, die Luftfeuchtigkeit liegt bei hundert Prozent, und auf dem Gang hat gerade ein Hund seine Notdurft verrichtet. Am Eingang sitzen zwei Security-Leute nebeneinander, die Dame gibt die Besucherausweise aus, die der Herr daneben drei Sekunden später wieder einsammelt. Zwei Stockwerke weiter oben macht die lärmende Klimaanlage die Luft 20 Grad kühler als vor der Tür. Dies ist die Heimat der ersten südamerikanischen iPS-Stammzellen.

Die Abkürzung steht für eine Technik, die vor mehr als zwei Jahren begann, ein ganzes Forschungsgebiet auf den Kopf zu stellen: induzierte Pluripotente Stammzellen (iPS-Zellen) sind im Labor gezüchtete Nachkommen normaler Körperzellen. Im brasilianischen Falle stammten sie aus einer Niere.

Sie verhalten sich ganz ähnlich wie embryonale menschliche Stammzellen. Deren Nutzung ist allerdings umstritten, weil für ihre Gewinnung Embryonen, die in einem Mutterleib zu ganz normalen Menschen werden könnten, zerstört werden müssen. IPS-Zellen dagegen waren nie Teil eines Embryos. Ihre Erschaffung ließ Stammzellforscher im puritanischen Nordamerika ebenso wie im biotechnik-skeptischen Deutschland aufatmen. Im erzkatholischen Brasilien ist das kaum anders.

Die Statue von Christus, dem Erlöser, die vom Corcovado-Berg aus auf Rio und seine Einwohner aufpasst, ist durch die abgetönten Fenster des Labors von Stevens Rehen nirgends auszumachen. Wer mit verbundenen Augen hierher gebracht würde, müsste schon ziemlich genau hinsehen und -hören, um an portugiesisch beschrifteten Fläschchen oder Bossa-nova-Klängen aus einem Radio im Nachbarlabor zu erkennen, wo er sich befindet.

Die etwas in die Jahre gekommenen Laborbänke mit etwas jüngeren Laptops und frisch ausgepacktem Labormaterial könnten auch in Harvard oder Berlin stehen. Der junge Professor mit der randlosen Brille und dem unter dem blauen Polohemdsärmel hervorlugenden Tattoo spricht fließend Englisch.

Stevens Rehen hat lange in den USA gearbeitet. Jetzt will er, vom Institut für Biowissenschaften der Universidade Federal do Rio de Janeiro aus, international konkurrenzfähige Forschung machen. Bisher gibt es offiziell erst in vier Ländern iPS-Zellen, die auch dort hergestellt sind: In Japan, den USA, in Deutschland und in China.

Der Neurobiologe Rehen will mit seinen Zellen eine jener Krankheiten untersuchen, die immer wieder als Ziel für eine Stammzelltherapie genannt wird: Parkinson. Bei dem neurologischen Leiden gehen Zellen, die den Botenstoff Dopamin produzieren, zugrunde. Stammzellen, ins Gehirn injiziert, könnten diese vielleicht einmal ersetzen. All das ist allerdings nicht nur am Zuckerhut, sondern auch an den Top-Instituten in den USA, Europa und Japan noch weit von der Anwendung an Patienten entfernt.

Ein Problem mit den iPS-Zellen ist, das für ihre Herstellung Gene mit Hilfe eines Virus eingeschleust werden müssen. Sie sorgen dafür, dass die Zellen reprogrammiert werden, also aus dem Erwachsenenstadium in eine Art embryonalen Zustand der unbegrenzten Entwicklungsmöglichkeiten zurückfallen. Wo diese Gene im Genom eingebaut werden, ist reiner Zufall. Probleme als Folge dieses Eingriffs sind nicht ausgeschlossen.

Angst vor der Konkurrenz

"Wir sind froh, dass wir diese Technik beherrschen, und für die Forschung ist sie optimal", sagt Martin Bonamino vom Nationalen Krebsinstitut in Rios Altstadt, ganz in der Nähe des Hauses der Sambakönigin Carmen Miranda.

Für den Einsatz am Menschen "wäre es aber sicher besser, wenn wir eine Technik hätten, die ohne Virus auskäme und bei der die Gene nicht dauerhaft ins Genom eingeschleust werden müssten", so der gebürtige Argentinier, der Rehens Zellen mit dem reprogrammierenden Virus infiziert hat.

Den ersten Schritt auf die Weltbühne der Stammzellforschung machte die Zellbiologin Lygia Perreira, als sie Ende vergangenen Jahres in Sao Paulo embryonale Stammzellen präsentierte, die in Südamerika entwickelt worden waren.

Er kam zu einem Zeitpunkt, zu dem die Stammzellforscher auf einen Aufschwung hoffen. Der amerikanische Präsident Barack Obama will die restriktive Regelung, die sein Vorgänger Bush 2001 für die Förderung des Forschungszweigs einführte, rückgängig machen. Und im Januar hat die amerikanische Zulassungsbehörde FDA zum ersten Mal einen Antrag auf eine klinische Studie mit embryonalen Stammzellen genehmigt.

"Mich interessiert allerdings immer mehr auch die Möglichkeit, Stammzellen für die Forschung an Krankheiten zu nutzen, die speziell hier in Brasilien ein Problem sind", sagt Rehen. Welche genau er meint, will er nicht preisgeben. Er hat Angst, dass ihn die Konkurrenz sonst überholen könnte.

Er tut ohnehin genug, es anderen einfach zu machen. Seine Mitarbeiterin Bruna Paulsen hat ein detailliertes Schritt-für-Schritt-Protokoll der Reprogrammierungstechnik ins Internet gestellt ( www.anato.ufrj.br/ips).

Kostenlos für die Kollegen

Auch die Zellen selbst sollen für Kollegen kostenlos über das kürzlich gegründete Nationale Stammzelllabor LANCE zugänglich sein. Geld dafür gibt es von der FAPERJ, der Forschungsstiftung des Bundesstaates Rio. Wie ihr Pendant in Sao Paulo darf sie jährlich mit gut einem Prozent der Steuereinnahmen Forschungsprojekte fördern - im von der Weltfinanzkrise noch relativ verschonten Boomland Brasilien eine Menge Geld.

Auf die Frage, was denn die Big Player der Stammzellforschung zu den Arbeiten in Brasilien sagen, meint er: "Ich bin sicher, die wissen nicht einmal, dass wir existieren." Das klingt eher traurig. Tatsächlich wäre es ein Zeichen dafür, dass in der Stammzellforschung mittlerweile eine kritische Masse erreicht ist.

Unzählige Doktoranden aus fast allen Ländern der Welt haben in den fast zehn Jahren, seit James Thompson in Madison es erstmals schaffte, menschliche embryonale Stammzellen im Labor wachsen zu lassen, Erfahrungen gesammelt.

Heute sind viele von ihnen junge Professoren oder Professorinnen irgendwo zwischen New York, Rio und Tokio. Und in ärmeren Ländern wird immer häufiger auch von staatlicher Seite versucht, biomedizinische Forschung voranzutreiben. Eine Studie im Fachmagazin Nature Reviews Genetics nannte im September 2008 Mexiko, Indien, Thailand und Südafrika als beste Beispiele.

Einen Tag, nachdem Rehen und Bonamino im Januar mit ihren Stammzellen an die Öffentlichkeit gingen, meldeten sich allein in Brasilien vier weitere Arbeitsgruppen, die ebenfalls iPS-Stammzellen entwickelt haben wollen. Anfang Februar begann in Sao Paulo ein Kurs, in dem Studenten und Jungforscher aus ganz Lateinamerika die Arbeit mit Stammzellen lernen. Und vielleicht gelingt es ja auch bald, Studenten und Forscher aus dem Ausland anzulocken.

Die Möglichkeit, nach einem harten Labortag am Strand von Ipanema den Sonnenuntergang zu genießen, wäre auch ein Standortfaktor, mit dem man Talente werben könnte.

© SZ vom 19.02.2009/mcs - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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