Sicherheits-Studie:"Alarmierende Situation bei Atomkraftwerken"

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Unbemerkt von der breiten Öffentlichkeit ist es seit der Katastrophe von Tschernobyl zu einer großen Zahl von Vorfällen in Atomkraftwerken gekommen - auch in Deutschland. Das berichtet ein internationales Team von Wissenschaftlern.

Auch nach der Katastrophe von Tschernobyl 1986 hat es internationalen Wissenschaftlern zufolge weit mehr Unfälle in Atomkraftwerken gegeben als in der Öffentlichkeit bekannt geworden ist.

Erst am Dienstag ist es zu einer Störung im AKW Philippsburg gekommen. (Foto: Foto: AP)

Das berichtet ein internationales Team von Wissenschaftlern. Die Grünen im Europaparlament legten in Brüssel die entsprechende Studie vor.

"Wir haben es 21 Jahre nach Tschernobyl mit einer alarmierenden Situation zu tun", sagte der Leiter des Instituts für Risikoforschung der Universität Wien, Wolfgang Kromp, der die Studie mit verfasst hat.

Die Wahrscheinlichkeit eines "schwerwiegenden Unfalls" nehme zu. Oft mangele es an erfahrenem Personal und Geld. Auch der Terrorismus stelle eine wachsende Bedrohung dar. Die Atomkraft müsse deshalb den "geordneten Rückzug" antreten.

Jedes Jahr gibt es den Autoren zufolge weltweit mehrere tausend Zwischenfälle in den Meilern, bis zu 800 allein in Frankreich. In Deutschland waren es seit Anfang der 90er Jahre 2200 Zwischenfälle der untersten Stufe 0 ("ohne Bedeutung für die Sicherheit). Nur 72 seien auf der siebenstufigen Skala höher eingeordnet worden.

Zu einem Vorfall der Klasse 1 "Störung" kam es zuletzt am gestrigen Dienstagmorgen im Atomkraftwerk Philippsburg, wie das baden-württembergischen Umweltministerium heute meldete. Im Block 1 des AKW sei Stickstoffgas aus dem Sicherheitsbehälter über die Personenschleuse aus fehlerhaft verschlossenen Ventilen entwichen. Radioaktivität wurde nicht frei. Das entwichene Stickstoffgas sei "frei von Radioaktivität" gewesen, berichtete das Ministerium.

In Frankreich seien rund 1600 Ereignisse der Stufe 1 zugeordnet worden, die US-Behörden hätten im gleichen Zeitraum dagegen nur 22 Zwischenfälle überhaupt an die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) gemeldet. Dies werfe die Frage auf, ob die Zwischenfälle tatsächlich einheitlich bewertet würden, schreiben die Autoren der Studie, acht Wissenschaftler aus Deutschland, Österreich, den USA und Frankreich.

Zwei gefährliche Vorfälle in Deutschland

Die Studie "Restrisiko" beschreibt auch 16 der gefährlichsten Fälle der vergangenen 20 Jahre, davon zwei in Deutschland. So habe im Dezember 2001 in Brunsbüttel eine Wasserstoffexplosion Rohrleitungen des Sprühsystems am Siedewasserreaktor stark beschädigt. Bis dahin sei eine derartige Explosion nahezu ausgeschlossen worden und die Anlage habe umfangreich nachgerüstet werden müssen.

"Die Wahrnehmung der vergangenen Jahre, dass man die Kernenergie in den Griff bekommen hat, ist eine Illusion", warnte Co-Autor Mycle Schneider.

Ein großes Problem ist den Autoren zufolge die Kategorisierung der Vorfälle. Die Internationale Ereignis-Skala (INES) der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) sei irreführend, weil sie nur die Strahlung bewerte und damit das Gefahrenpotenzial erst berücksichtige, wenn es zu spät sei, hieß es.

Die Experten warnten auch vor dem Betrieb von Reaktoren sowjetischer Bauart in Osteuropa. Derartige Pläne etwa des italienischen Energiekonzerns ENEL seien gefährlich. "Diese Sicherheitsphilosophie führt zu deutlichen Risiken", sagte Kromp.

Die Vizechefin der Grünen im Europaparlament, Rebecca Harms, warnte davor, die Atomkraft als Gegenmittel zum Klimawandel auszuweiten. "Die Unternehmen nutzen jetzt die Klima-Debatte als dubiose Trittbrettfahrer, um ihre Reaktoren wieder an den Mann zu bringen." Risikoforscher Kromp forderte, auf Energieeffizienz zu setzen. "Wir müssen unseren Lebenswandel ändern."

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