Sexualaufklärung:Jung, ahnungslos, schwanger

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Früh geschlechtsreif, aber schlecht aufgeklärt: Junge Mädchen in Deutschland lassen immer häufiger abtreiben.

Cathrin Kahlweit

Der Trend ist eindeutig: Die Zahl der Abtreibungen, die junge Mädchen zwischen zehn und 14 Jahren vornehmen ließen, hat sich im letzten Jahrzehnt mehr als verdoppelt.

Und die Kurve zeigt weiter nach oben. Zwar sieht die Angelegenheit in absoluten Zahlen auf den ersten Blick wenig dramatisch aus - 1996 wurden bei sehr jungen Mädchen 365 Schwangerschaftsabbrüche vorgenommen, 2004 waren es schon 779 -, doch die Entwicklung beschäftigt Sexualwissenschaftler und Pädagogen gleichermaßen.

Und auch die Bundesregierung stellte auf eine kleine Anfrage der Union fest: Die Entwicklung sei zwar nicht besorgniserregend, aber ernst zu nehmen.

Denn auch bei älteren Teenagern steigen die Zahlen von Schwangerschaften und Abbrüchen; im vergangenen Jahr waren knapp 13 000 Mädchen unter 18 schwanger. Der Anteil von Abtreibungen junger Mädchen an der Gesamtzahl der Abbrüche hat sich damit von 1996 bis 2004 von drei auf sechs Prozent immerhin verdoppelt.

Kindliche Schwangere, Teenage-Mütter - das ist eine relativ neue Entwicklung, die Experten wie der Sexualwissenschaftler Norbert Kluge von der Universität Koblenz-Landau auf die früher einsetzende Geschlechtsreife zurückführen.

Er führt an, dass Mädchen und Jungen mittlerweile durchschnittlich schon mit 11,5 Jahren geschlechtsreif seien - und Mädchen mithin auch schon früh schwanger werden könnten. Außerdem sei anzunehmen, dass Kliniken und Arztpraxen inzwischen ihre Meldepraxis korrigiert hätten, dass die Statistik also präziser geworden sei.

"Alle haben schon"

Das Robert-Koch-Institut hat deshalb bei Schülerinnen und Schülern der neunten und zehnten Klassen nachgefragt, was sie über Verhütung wissen und ist auf drastische Wissenslücken gestoßen - kein Wunder, wenn im schulischen Biologieunterricht zwar über die Anatomie des Geschlechtsverkehrs, aber eher selten über Diaphragmen oder Minipillen geredet wird.

"Es reicht eben nicht, wenn der Biologielehrer in einer Schulstunde sagt, was zu sagen ist", urteilt Kluge. Gefordert seien neben den Lehrern auch die Eltern: "Wenn man seiner Tochter sagt: ,Komm" mir nicht mit einem Kind nach Hause", genügt das nicht.

Man muss Kinder im Prozess der Pubertät begleiten." Nach seiner Ansicht sei Aufklärung in vielen Familien auch ausschließlich an die Mütter delegiert: "Gerade Väter sind aber gehalten, hier ihre Erziehungs- und Informationspflicht zu erfüllen", fordert Kluge.

Der soziale Druck, endlich Geschlechtsverkehr zu haben, wird außerdem, mangelnder Aufklärung zum Trotz, allmählich stärker - nach dem Motto: "Alle haben schon, nur ich nicht." Und so passiert auch das "erste Mal" heute weit früher als noch vor einiger Zeit. Vor 25 Jahren gaben nur drei Prozent aller 14-jährigen Mädchen in einer Umfrage an, dass sie schon mal mit einem Jungen geschlafen hatten, 2001 waren es schon elf Prozent.

Und immer mehr von ihnen stolpern quasi unvorbereitet in dieses "erste Mal" hinein, haben also keine Verhütungsmittel dabei: Nach einer Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung verhüten etwa achtzig Prozent der Jugendlichen beim Sex - die restlichen zwanzig Prozent verzichten nach ihren eigenen Angaben auf die Verhütung.

Bei Pro Familia ist man skeptisch, ob die Geschlechtsreife tatsächlich im Durchschnitt schon zwischen dem 11. und 12. Lebensjahr einsetzt - aber auch bei der Familienberatungseinrichtung sieht man einen verstärkten Handlungs- und Beratungsbedarf aufgrund steigender Schwangerschafts- und Abbruchzahlen.

Der renommierte Sexualwissenschaftler Gunther Schmidt vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf hat daher Anfang Mai für Pro Familia mit einer Untersuchung begonnen, in der er ein Jahr lang minderjährige Schwangere befragt. Siegrid Weiser, Projektleiterin bei Pro Familia, mag daher auch noch gar nicht so recht in die Ursachenforschung einsteigen.

Immerhin: Dass Mädchen aus sozial schwachen Verhältnissen häufiger schwanger werden als aus sozial stabilen - dafür gebe es Anhaltspunkte; ebenso dafür, dass Hauptschülerinnen eher betroffen sind als Mädchen mit höherer Schulbildung.

Die Bundesregierung musste in ihrer Antwort auf die Anfrage der CDU zugeben, dass sie herzlich wenig Datenmaterial hat, um dieses, so die Christdemokratinnen, "alarmierende Problem" anzugehen: "Gesicherte Erkenntnisse liegen nicht vor" ist ein oft zu lesender Satz in der Bundestagsdrucksache Nr. 15/4580.

Immerhin wagt man auch beim Bundesfamilienministerium die Vermutung, dass Mädchen "mit eingeschränkten Berufs- und Lebensperspektiven das Austragen einer Schwangerschaft in jungen Jahren wählen; junge Mädchen mit höherer Bildung eher zu einem Abbruch neigen".

In Sachsen etwa gehörten überproportional viele Förderschülerinnen zu den minderjährigen Schwangeren. Ob auch unter jungen Ausländerinnen die Zahlen überproportional sind - darüber gibt es "keine Erkenntnisse".

Mehr Sexualkunde - und früher

So wird weiter nach belastbaren Zahlen geforscht, um gezielter Aufklärung und Hilfe anbieten zu können. Derweil bleibt Jugend-Soziologen und Sexualwissenschaftlern nur die Mahnung an Schulen und Eltern, früh genug mit Kindern über Verhütung und Eigenverantwortung zu sprechen - und die Jungen dabei nicht zu vergessen.

Junge Männer wurden, so Experte Kluge, bei der Sexualerziehung meist vernachlässigt und schnitten daher bei Wissensfragen deutlich schlechter ab als Mädchen. Kluge fordert auch, Sexualkunde schon am Ende der Grundschule zu unterrichten und in der Sekundarstufe zu vertiefen. Immerhin können manche Mädchen aus der 4. oder 5. Klasse schon ein Kind bekommen.

© SZ vom 31.10.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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