Schamgefühle:Peinlich

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Nach einer Blamage läuft der Mensch rot an. Der angeborene Effekt der Scham weckt Sympathien und fördert das Verzeihen.

Sebastian Herrmann

Ein großer Auftritt. Ein ganz großer. Der Kollege lästert über den Chef, ziemlich laut und ohne Blatt vorm Mund. Dumm nur, dass das Ziel seines Spotts direkt hinter ihm steht. Als das Lästermaul merkt, wer ihm zuhört, verstummt es. Sein Gesicht wird heiß und verfärbt sich knallrot.

Der Mann senkt seinen Kopf, blickt zur Seite und stammelt ein paar Worte der Entschuldigung. Er schämt sich - ein Gefühl, an dessen Entschlüsselung Psychologen, Neurologen und Kulturwissenschaftler arbeiten. Eines ist bereits quer durch die wissenschaftlichen Disziplinen klar: Nur der Mensch kann sich schämen.

Die psychischen Schmerzen, die ein Mensch durch Scham erleidet, sind der Preis dafür, dass wir unseren evolutionären Siegeszug als soziale Wesen angetreten haben. Schamgefühle überwältigen einen Menschen,wenn er sich nicht konform mit einer Gruppe verhält, gegenseitige Hilfe verweigert, gegen sexuelle Sitten verstößt oder im Wettbewerb um Status eine Niederlage erleidet.

Scham setzt eine gravierende Kluft zwischen den eigenen Ansprüchen und der Realität voraus. Und die jeweiligen Ansprüche an sich selbst werden durch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe bestimmt. "Scham hat die Funktion, die Einhaltung von Normen zu gewährleisten", sagt Dieter Frey, Sozialpsychologe an der Universität München.

Das Gefühl werde nur ausgelöst, wenn es ein Publikum gibt - egal, ob dieses tatsächlich anwesend ist oder sich indirekt durch Normen in der Vorstellung eines Menschen manifestiert. Die Schamesröte wiederum ließe sich als Sittenwächter bezeichnen, als eine im Menschen präsente Instanz, die auf die Einhaltung von Regeln pocht: Der Kollege weiß, dass nicht gelästert werden sollte. Egal, ob das Opfer in Hörweite steht oder nicht.

"In eine Gruppe integriert zu sein, war im Laufe der Menschheitsgeschichte immer eine Lebensversicherung", erklärt Harald Euler, Evolutionspsychologe an der Universität Kassel. Normverstöße werden von der Gruppe geahndet. Um das zu Urzeiten noch Lebensgefährliche zu verhindern - aus der Gruppe ausgeschlossen zu werden -, habe der Mensch also die Fähigkeit entwickelt sich zu schämen, argumentiert auch der amerikanische Psychologe Mark Leary.

Ein rotes Gesicht, gesenkter Blick: Demutsgesten, mit denen die Gruppe milde gestimmt werden soll. Derartige symbolische Unterwerfungen sind zwar auch bei Tieren bekannt, doch Paul Gilbert von der Universität Derby gesteht diesen höchstens zu, evolutionäre Vorstufen der Scham zu empfinden.

Die entscheidenden kognitiven Fähigkeiten würden Tieren fehlen, schreibt der britische Emotionspsychologe im Fachmagazin Social Research.

Langwieriger Prozess

Die Scham nämlich zählt zu den so genannten selbstbewussten oder komplexen Emotionen. "Um diese zu spüren, muss man in der Lage sein, über sich selbst und über andere zu reflektieren", sagt der Bielefelder Neuropsychologe Hans Markowitsch.

Kinder lernen deshalb auch erst im Alter von 18 bis 24 Monaten sich zu schämen. Erst dann nämlich, wenn sie beginnen, sich als eigenes Selbst zu begreifen. Weitere Bedingung: ein prospektives Gedächtnis.

So nennt Markowitsch die dem Menschen eigene Fähigkeit, Konsequenzen der Handlungen im Voraus abzuschätzen. "Selbstbewusste Emotionen bedürfen außerdem der Fähigkeit, sich in die Sichtweise anderer hineinzuversetzen", sagt Markowitsch. Psychologen sprechen dabei von der "Theory of Mind".

Sich schämen zu lernen, ist ein langwieriger Prozess, eine Art soziales Reifen. Würde man die Fähigkeit, dieses Gefühl zu empfinden, als Kunst begreifen, erreichte ein Mensch darin erst im Alter von etwa 20 Jahren Perfektion.

Im Gegensatz dazu sind die so genannten Basisemotionen Angst, Ärger, Freude und Trauer praktisch von Beginn an in uns angelegt. So werden diese auch in den entwicklungsgeschichtlich alten Regionen unseres Gehirns verarbeitet, im limbischen System.

Bei komplexen Empfindungen wie der Scham aktiviert sich dagegen der orbitofrontale Cortex, der so genannte Stirnlappen. Patienten, die Verletzungen in diesem Hirnbereich erlitten haben, verhalten sich oft antisozial oder stellen sich selbst bloß, ohne es zu merken.

Leben ohne Scham

Sie können sich nicht mehr schämen. Ihre Basisemotionen sind von einer solchen Verletzung nicht beeinträchtigt, wie die Neurologen Erin Heerey und Robert Knight von der University of California in Berkeley in einem Experiment überprüft haben.

Patienten, deren vorderer Stirnlappen verletzt war, konnten auf Porträtfotos zwar noch Angst oder Ekel in den abgebildeten Gesichtern erkennen, Schamesröte stellte für sie jedoch ein unlösbares Rätsel dar. In anschließenden Interviews verrieten viele der Patienten dann persönliche Details, die andere selbst engsten Freunden kaum anvertrauen würden.

Ohne Schamgefühle ist es schwierig, in einer Gemeinschaft zu leben. Die neuronalen Schleichwege der Scham haben Wissenschaftler im Groben entschlüsselt.

Und auch bei den physiologischen Effekten dieser Emotion hat die Forschung gerade einen Schritt getan. Dass sich die Blutgefäße im Gesicht weiten, ist lange bekannt. Aber auf die Frage, ob dieser Effekt im Körper mehr als bloßes Erröten auslöst, konnte die Psychologin Sally Dickerson von der Universität Los Angeles einen Teil zu einer umfassenderen Antwort beisteuern.

Wie gelähmt

Die Forscherin ließ eine Gruppe von Probanden Aufsätze über peinliche oder gar traumatische Erlebnisse schreiben, an denen diese selber schuld waren. Geschichten von beruflichem Scheitern, zerbrochenen Beziehungen bis hin zu sexueller Gewalt. "Die Probanden haben ihre Geschichten beim Schreiben quasi noch einmal durchlebt", sagt Dickerson.

Anschließend fand sich Erstaunliches im Speichel der Teilnehmer: Allein die Erinnerung provozierte eine deutliche Antwort des Immunsystems, ihr Körper schüttete den Botenstoff Tumor-Nekrose-Faktor-alpha aus. Diese Reaktion erkläre, weshalb man sich bei einer Blamage wie gelähmt fühlt, argumentiert Dickerson in ihrem Beitrag für das Fachmagazin Psychosomatic Medicine.

Denn so würden Botenstoffe aktiviert, die sonst bei einer Infektion dafür sorgen, dass der Organismus geschont wird - indem sich der Betroffene zurückzieht und seine körperlichen Aktivitäten einschränkt.

Sprich: Er fühlt sich gelähmt. Er will im Boden versinken. Das Ergebnis: eine Demutsgeste. Nur - wirkt diese heute noch oder ist sie ein nutzloses Überbleibsel aus Urzeiten? Anthony Manstead hat eindeutige Hinweise darauf gefunden, dass zur Schau gestellte Scham eine wirksame Entschuldigung für einen Normverstoß ist.

Der Psychologe von der britischen Universität Cardiff machte seine Probanden in zwei Gruppen zum Publikum eines Missgeschicks: Auf einem Video war ein Mann zu sehen, der in einem Supermarkt eine Pyramide aus Toilettenpapier zusammenstürzen lässt.

In einer Version zeigte der Tollpatsch die typischen Zeichen der Scham, in der zweiten verzog er keine Miene. Das Publikum urteilte eindeutig: Der offensichtlich Beschämte wirkte sympathischer. Ihm wollten auch mehr Probanden Hilfe anbieten als dem ungerührten Pokerface.

Weitere Befunde stützen diese Ergebnisse: Straffällige, die Schamgefühl zeigen, dürfen in der Regel mit milderen Strafen rechnen als Angeklagte, die keine derartigen Emotionen zeigen, wie die Psychologen Dacher Keltner und Lee Anne Harker von der Universität Berkeley schreiben. Kleinkinder stimmen mit knallrotem Kopf ihre Eltern milde. Gezeigte Scham verführt zu Sympathie.

Geteilte Scham

Diesen Effekt scheint die Literatur schon lange intuitiv auszunützen, wie Ingrid Hotz-Davies in ihrer aktuellen Arbeit darlegt. "Scham wird geteilt wie kaum ein anderer Affekt", sagt die Tübinger Anglistin. Man schäme sich mit anderen, für andere und manchmal sogar dann, wenn sich jemand selbst gar nicht geniert. Dieser Effekt sei eine Geheimwaffe der klassischen und modernen Literatur.

Die englische Autorin Jane Austen nutzte diese wie eine Meisterin, etwa in ihrem Roman "Stolz und Vorurteil". Die Protagonistin Elizabeth Bennet schämt sich praktisch den ganzen Roman hindurch.

Nicht minder kunstvoll führte William Shakespeare etwa im Drama "Antonius und Cleopatra" das Schwert der Scham. Der Römer an der Seite der ägyptischen Herrscherin blamiert sich darin als treuloser Heerführer, der seine Soldaten im Angesicht der Niederlage im Stich lässt. Und der Leser? Der scheint mitzuleiden. "Dagegen können sich die meisten gar nicht wehren", sagt Hotz-Davies.

"Scham ist der Affekt, durch den Leser eines Buchs auf der Ebene körperlicher Reaktionen manipuliert werden." Solange Scham offen zu erkennen ist, spielt die Ursache dafür kaum eine Rolle. Was als Blamage gilt, variiert ohnehin zwischen den Kulturen und verändert sich auch innerhalb einer Gesellschaft ständig.

So empfanden Studenten des Genfer Emotionspsychologen Klaus Scherer in fiktiven Situationen keine oder kaum Scham, in denen die meisten nur wenige Jahrzehnte zuvor wahrscheinlich im Boden versunken wären. "Eigene Nacktheit oder die Vorstellung, dass jemand in die Toilette kommt, weil man vergessen hat, die Tür zu verriegeln, war für die meisten Probanden kaum eine beschämende Vorstellung", erklärt Scherer die Ergebnisse seiner Untersuchung.

Eine Konstante sind dagegen die physiologischen Spuren der Scham: Egal, ob Deutscher oder Amerikaner, rot werden sie alle. Manche mehr, manche weniger. Auch die mimischen und gestischen Ausdrücke sind kulturunabhängig, wie die französischen Psychologen François Lelord und Christophe André beschreiben: Der Blick wird gesenkt, der Kopf nach vorne geneigt.

Tomate, Paprika oder Kupferplatte

Die universellen Ausprägungen dieser Emotion finden sich auch in den Sprachen der Welt wieder. Über 150 Idiome hat Michael Casimir auf ihre Metaphern für die Scham untersucht.

"Von Island bis nach China, überall werden sprachliche Bilder verwendet, die aufs Rotwerden abzielen", sagt der Professor für Ethnologie der Universität Köln. Als Tomate, Paprika oder Kupferplatte müssen sich Menschen veralbern lassen, die sich schämen.

Unter dunkelhäutigen Menschen fallen derlei Vergleiche aus: Die Gesichtsröte ist nicht zu erkennen, die Menschen machen sich über Gesten der Scham wie den gesenkten Blick lustig. Denn diese Emotion ist so stark, dass sie Gemeinschaften zusammenhält. Und so universell, dass sie Kultur und Künste rund um den Globus beeinflusst.

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