Placebo-Forschung:Die Kraft des schönen Scheins

Die moderne Medizin hält die Placebowirkung für eine nebulöse Nebenwirkung. Doch nun entschlüsseln Forscher, warum sie manchmal stärker wirken als echte Mittel - und sogar Kraft geben.

Werner Bartens

Patienten in Deutschland fühlen sich von ihrem Arzt häufig nicht verstanden und schnell abgefertigt. Das sind keine Vorurteile, sondern Ergebnisse aktueller Studien.

Placebo-Forschung: An einem Fitnessgerät wie diesem zeigte sich die Kraft des Placebo: Wer glaubte, er habe ein kraftsteigerndes Mittel getrunken, leistete mehr.

An einem Fitnessgerät wie diesem zeigte sich die Kraft des Placebo: Wer glaubte, er habe ein kraftsteigerndes Mittel getrunken, leistete mehr.

(Foto: Foto: iStock)

Demnach lassen sich Mediziner durchschnittlich weniger als acht Minuten Zeit pro Patient. 46 Prozent der Patienten sagen, dass sie von ihrem Arzt nie oder selten über die Ziele der Behandlung aufgeklärt werden.

Das ist nicht nur ein Ärgernis, es gefährdet auch den Behandlungserfolg, wissen doch Mediziner seit langem, dass ein gutes Verhältnis zwischen Therapeut und Patient entscheidend zur Heilung beiträgt.

Kinder machen es vor. Sie zeigen immer wieder, welch enorme Wirkungen das richtige Mittel zur richtigen Zeit haben kann. Eben heulen sie noch, doch kaum bekommen sie ein Bonbon, ist die Pein verflogen.

"Das sind die wahren Zuckerpillen", sagt Raul de la Fuente-Fernández, Hirnforscher aus dem spanischen Ferrol. "Man sollte in allen klinischen Vergleichsstudien die Placebo-Kontrolle durch Süßigkeiten ersetzen."

Heilmittel Zuwendung und Trost

Dabei kommt es weniger auf die Inhaltsstoffe an. Wichtiger für Heilerfolg und Tränenstopp sind Zuwendung und Trost, die mit verabreicht werden. Mediziner wissen, wie sehr Einfühlung und Aufmerksamkeit dazu beitragen können, dass Kranke gesund werden.

Als "Droge Arzt" oder "Placebo-Effekt" wird dieser Einfluss bezeichnet. Jahrtausende lang machten es sich Ärzte und Heiler aller Art zunutze, dass ihre Patienten daran glaubten, dass die pharmakologisch im besten Falle unwirksamen, im schlechtesten Fall gefährlichen Kuren ihnen schon nutzen würden.

Weil es keine zielgerichteten Medikamente gab, schluckten Kranke früher Arsen oder Urin - und hatten, sofern sie es überlebten, das Gefühl, wieder genesen zu sein. Doch ausgerechnet die moderne Medizin vernachlässigt Placebos und hält sie für eine nebulöse Nebenwirkung.

"Placebos gelten vielen Medizinern als Ärgernis, als störendes Hintergrundrauschen, das in Studien die Effekte von Medikamenten oder Operationen in Frage stellt", sagt Manfred Schedlowski, Medizinischer Psychologe an der Universität Essen. "Erst jetzt verstehen wir langsam, wie Scheinbehandlungen wirken - dieses Wissen sollte für therapeutische Strategien genutzt werden."

Die scheinbar so diffuse Kraft, die aus Erwartungen und Gefühlen der Patienten entstehen kann, hinterlässt reale Spuren im Körper. Etliche Beispiele wurden auf einer Tagung in der Evangelischen Akademie Tutzing vorgetragen, die Freitag zu Ende gegangen ist. So hat Schedlowskis Team gezeigt, dass das Abwehrsystem durch Erwartungen beeinflusst wird. Zunächst bekamen Probanden ein Mittel, das die Immunantwort unterdrückte.

Die Kapsel nahmen sie mit einer nach Erdbeere und Lavendel schmeckenden Flüssigkeit. Eine Woche später bekamen die Teilnehmer wiederum das seltsame Gebräu, sowie Kapseln, die diesmal nur Placebo erhielten. Obwohl der Medikamenteneffekt längst abgeklungen war, unterdrückte auch die Scheinbehandlung das Immunsystem (Brain, Behavior, and Immunity, Bd. 20, S. 430, 2006).

Der Arzt als Droge

"Die sozialen und psychischen Reize durch Placebos wirken häufig an denselben Rezeptoren und über dieselben Mechanismen wie Medikamente", sagt Fabrizio Benedetti, Neurowissenschaftler aus Turin. In einer Studie fügte Benedetti Probanden gezielt Schmerzen zu: Ihnen wurde die Blutzufuhr zur Hand abgedrosselt, dennoch mussten sie immer wieder eine Sprungfeder zusammendrücken.

Nach 15 Minuten war der Schmerz so unerträglich, dass die Mehrzahl aufgab. In der nächsten Phase bekamen die Teilnehmer Morphin - mit Hilfe des Schmerzmittels hielten sie 23 Minuten durch. Eine Woche später, das Morphin war längst aus ihren Körpern verschwunden, mussten sie wiederum unter Schmerzen die Fäuste ballen, wiederum bekamen sie etwas gespritzt. Was sie für Morphin hielten, war Kochsalz, dennoch hielten sie Probanden 20 Minuten durch - fast so viel wie mit "richtigem" Morphin.

"Es geht auch ohne Medikamente"

"Die Placebo-Wirkung wird über den Opioid-Rezeptor vermittelt", sagt Benedetti. Dies konnte er belegen, als die Andockstelle für Opioide wie Morphin mit einem Medikament blockiert wurde. Nun stellte sich der Placebo-Effekt nicht ein - nach 15 Minuten konnte kein Proband mehr die Hand schließen.

"Es geht auch ohne Medikamente", sagt Benedetti. "Die Erwartung moduliert die Hirnaktivität." Um dies zu beweisen, mussten junge Leute - wie im Fitnessstudio - die Oberschenkel gegen Widerstand strecken. Im Durchschnitt gelang dies fünfmal. Dann bekamen die Probanden ein Getränk, das wie Kaffee schmeckte, aber keine Wirkstoffe enthielt.

Damit die Teilnehmer den Eindruck bekamen, dass Koffein ihre Leistung steigerte, wurden unmerklich die Gewichte reduziert, als sie während der nächsten Streckübung die Flüssigkeit im Mund hatten. Dann wurden die Gewichte unbemerkt wieder draufgepackt. Jetzt gelang es den Probanden mit Hilfe des Placebo-Kaffees, die Beine durchschnittlich achtmal zu strecken.

Die Kraft des schönen Scheins

Der Neurowissenschaftler Jon-Kar Zubieta von der University of Michigan in Ann Arbor hat zeigen können, wo im Gehirn Placebos den Opioid-Rezeptor beeinflussen und auf diese Weise Schmerzen dämpfen (PNAS, Bd. 104 S. 11056, 2007). Dabei werden besonders das Belohnungszentrum und das Limbische System aktiviert, das Gefühle verarbeitet. "Das sind reale biochemische Veränderungen", sagt Zubieta. "Die Placebo-Wirkungen scheinen stärker zu sein als die Endorphine, die der Körper ausschüttet, wenn er schädlichen Reizen ausgesetzt ist."

Offenbar lässt sich der Placebo-Effekt sogar dosisabhängig steigern. Um dies zu erforschen, teilte Ted Kaptchuk von der Harvard University Patienten mit Reizdarmbeschwerden in drei Gruppen ein. Die erste Gruppe kam auf die Warteliste. Zur zweiten Gruppe kamen die Ärzte ins Zimmer, ohne viele Worte zu machen und verabreichten ein Placebo. In der dritten Gruppe injizierten Mediziner zwar auch ein Placebo.

"Ausstrahlung wirkt auch ohne Worte"

Die vermeintliche Pharmakotherapie wurde jedoch begleitet von Ritualen ärztlicher Zuwendung: Die Mediziner sprachen die Patienten freundlich an, fassten sie aufmunternd an und hörten zu. Um wen sich die Ärzte am intensivsten gekümmert hatten, der spürte die stärkste Linderung - am geringsten war sie bei jenen, die in die Warteliste eingeteilt waren.

Irritierend für die Forscher blieb jedoch, dass einige Therapeuten, die einsilbig ins Zimmer kamen und gleich zustachen, bessere Ergebnisse erzielten als mancher Patientenversteher aus Gruppe drei. "Offenbar wirkt die Ausstrahlung ohne Worte", sagt Kaptchuk. "Wir konnten uns nicht erklären, was den Unterschied ausmachte - auch nicht, als wir die Videoaufzeichnungen analysiert hatten."

Auch die Erwartungshaltung der Patienten birgt Überraschungen. "Man muss das Placebo-Konzept hinterfragen", sagt Klaus Linde, der an der Technischen Universität München komplementärmedizinische Verfahren erforscht. Schließlich hätten Studien zur Wirksamkeit von Akupunktur bei Rückenschmerzen erstaunliche Ergebnisse erbracht.

Für dieses Leiden sieht die Standard-Behandlung Bewegung, Physiotherapie und Medikamente vor. In einer Studie mit 1100 Probanden war jedoch die Akupunktur wirksamer - und die Schein-Akupunktur verschaffte Patienten ebenso viel Linderung, jedenfalls deutlich mehr als die übliche Therapie. Während nach klassischer Nadelung 47 Prozent der Probanden angaben, dass die Schmerzen abgenommen hätten, war dies nach Schein-Nadelung (an den "falschen" Punkten und oberflächlicher) bei 44 Prozent der Patienten ebenfalls der Fall - statistisch kein Unterschied.

Die Standard-Therapie empfanden hingen nur 27 Prozent als hilfreich. "Ein Dilemma", sagt Linde, "als wissenschaftlich sinnvoll wird nichts anerkannt, was nicht besser hilft als Placebo - in diesem Fall wirken aber die umstrittene Methode und die Scheinmethode besser als das, was die konventionelle Medizin zu bieten hat."Was sollen Krankenkassen in diesem Fall erstatten, fragt der Mediziner. Linde hat vier Akupunktur-Studien mit Schmerzpatienten untersucht. Dabei zeigte sich, dass die Symptomlinderung umso ausgeprägter war, je mehr sich die Patienten von der Akupunktur erwarteten (Pain, Bd. 128, S. 264, 2007).

Die Kraft des schönen Scheins

Forscher kennen jedoch nicht nur Placebo, sondern auch Nocebo - schädliche Einflüsse. Wenn der erwartete Therapieeffekt dazu führt, dass Kopfschmerzen nachlassen, bevor die geschluckte Tablette vor Ort sein kann, ist das erwünscht. Anders bei negativen Erwartungen: "Aus Studien wissen wir, dass Handy-Attrappen bei manchen Benutzern Kopfschmerzen auslösen.

Die denken, sie halten einen echten Apparat ans Ohr", sagt Benedetti. Mediziner, die auf die Kraft der Placebos vertrauen, dürfen deshalb nicht alles verraten. Immer wieder gibt es Kranke, bei denen eine Arznei nicht wirkt. Ärzte sagen dann manchmal, dass speziell für sie eine neue entwickelt wurde. Dieses Placebo hilft dann tatsächlich häufig, auch wenn die - wissenschaftlich bewiesene - Therapie zuvor nicht anschlug und in der angeblich neuen Wunderpille kein Wirkstoff enthalten ist.

Schlauch aus dem Nebenzimmer

Forscher wissen, welche immensen Effekte in Placebos lauern. Mittlerweile konnte gezeigt werden, dass Parkinson-Patienten von Placebos profitieren, indem vermehrt der Botenstoff Dopamin ausgeschüttet wird, der die Beweglichkeit wieder steigert.

Bei Depression beeinflussen Placebos anscheinend den Serotonin-Stoffwechsel positiv, bei Schmerzen reagieren die Opioid-Rezeptoren auf die Scheinmittel. Auch im Hormonstoffwechsel, der Immunabwehr und anderen Regelungssystemen im Körper lässt sich die Wirkung von Placebos nachweisen. Dennoch bleibt es schwierig, die Placebo-Wirkung auf den medizinischen Alltag zu übertragen. Nicht jeder Arzt vermittelt Patienten die gewünschten Hoffnungen.

Um zu zeigen, wie wichtig die Erwartung für den Therapieerfolg sind, haben Benedetti und Zubieta versteckte Behandlungen probiert. Patienten, denen der Backenzahn entfernt worden war, wurden gegen postoperative Schmerzen behandelt. Eine Gruppe bekam vom Arzt eine Lösung injiziert. Der Arzt sagte, das Mittel würde gegen Schmerzen helfen - es war aber lediglich Kochsalz.

Eine andere Gruppe bekam über eine Infusion Morphin zugeführt, ohne davon zu wissen. Aus dem Nachbarzimmer führten verdeckte Schläuche zum Tropf der Patienten, sodass die schmerzlindernde Lösung gegeben werden konnte, ohne dass ein Arzt im Raum war und die Patienten es merkten.

Der Effekt der "Droge Arzt" war enorm. Die Schmerzlinderung, die von den Patienten angegeben wurde, wenn sie damit rechneten, war viel ausgeprägter als wenn das Schmerzmittel den Körper heimlich erreichte. Allein die Mitteilung des Arztes, dass eine Injektion die Schmerzen lindern wird, entsprach einer Morphindosis von sechs bis acht Milligramm. Das Medikament allein hatte nur begrenzte Wirkungen.

"Man muss klinische Studien neu konzipieren"

"Eigentlich muss man klinische Studien neu konzipieren", sagt Luana Colloca, Neurowissenschaftlerin in Benedettis Institut an der Universität Turin. "Da der Wirkmechanismus eines Medikaments und eines Placebos oft ähnlich ist, können wir nicht sicher sein, ob etwa ein neues Schmerzmittel tatsächlich gezielt die Schmerzverarbeitung beeinflusst - oder die Erwartung eine Placebowirkung stimuliert, die den körpereigenen Opioid-Rezeptor aktiviert." In zukünftigen Untersuchungen sollten Patienten verdeckte Therapien erhalten, um den "puren" Medikamenteneffekt abschätzen zu können.

Einfacher wäre es wohl, positive Erwartungen der Patienten zu fördern - wohl die effektivste und günstigste Variante für Ärzte, Menschen zufrieden zu machen.

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