Physik des Skispringens:Der Ritt auf dem Luftpolster

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Der erste überlieferte Skisprung erreichte eine Weite von 25 Metern. Jetzt fliegen Sportler etwa zehnmal so weit. Damit sie noch länger segeln können, simulieren Wissenschaftler die Absprünge heute am Computer.

Arne Boecker

Wir schreiben das Jahr 1884. Erst zum zweiten Mal treffen sich Skispringer am Holmenkollen, dem Osloer Hausberg, zum Wettkampf. "Zu sehen, wie ein tüchtiger Skiläufer seine Luftsprünge aufführt - das ist eines der stolzesten Schauspiele, welches die Erde uns zu bieten vermag", schwärmt ein Teilnehmer.

0,7 Quadratmeter misst die Fläche aus Skiern und Körper, auf der die Skispringer durch die Luft segeln. (Foto: Foto: dpa)

Allem Enthusiasmus für die gerade mal 25 Meter weiten "Luftsprünge" zum Trotz, steigt er später doch auf Langlaufski und Hundeschlitten um. So hat es der Mann bis zum Nordpol geschafft. Es ist der norwegische Forscher Fridtjof Nansen.

Das Skispringen hat sich seit diesen Anfängen rasant entwickelt. Bei der alljährlichen Vierschanzentournee schaffen die Sportler Sätze von 120 bis 140 Metern. Bei Sprüngen von Großschanzen bleiben sie sogar fast einen Viertelkilometer in der Luft. Die Entwicklunfg zeigt sich an den Rekorden.

Die erste überlieferte Weite stammt aus dem Jahr 1879: 25 Meter. Sepp Bradl (Österreich) knackt 1936 die 100-Meter-Grenze. Lars Grini (Norwegen) überfliegt 1967 die 150 Meter, der Finne Toni Nieminen schafft 1994 mehr als 200 Meter.

Mit rudernden Armen

Den aktuellen Weltrekord von 239 Metern hält der Norweger Björn Einar Romören. Wer in derartige Sphären vordringt, nennt sich nicht mehr Skispringer, sondern Skiflieger.

Seit Donnerstag treffen sich die Besten dieser Zunft in Oberstdorf zur Weltmeisterschaft. Skispringen und Skifliegen sind Spektakel. An den Schanzen stehen Tausende, vor dem Fernseher sitzen Millionen Zuschauer.

Das physikalische Prinzip ist schnell erklärt: Unter Körper und Skiern staut sich der Fahrtwind und erzeugt Überdruck. Am Rücken und an der Oberseite der Skier entsteht dagegen Unterdruck - dies dämpft die Schwerkraft, die auf die Sportler wirkt.

Dass sie heute etwa zehnmal so weit fliegen, wie sie zu Nansens Zeiten sprangen, geht auf die Aerodynamik zurück. Anfangs haben Skispringer die Hände nach vorn gereckt, während sie auf der Schanze Anlauf nahmen. Im Flug ruderten sie mit den Armen, später hielten sie sie nach vorn gestreckt. Heute legen Springer die Arme nach dem Absprung an die Seiten des Körpers.

Schwedische Revolution

Anfang der neunziger Jahre revolutionierte der Schwede Jan Boklöv die Skisprung-Technik. Während eines Trainingssprungs kam er ins Trudeln. Um den Flug zu stablisieren, stellte er die Skispitzen leicht nach außen.

Bis dahin hatten die Sportler ihre Skier parallel geführt. Boklöv segelte an diesem Tag weiter als je zuvor. Heute springt die komplette Weltklasse in seinem V-Stil. Die geöffneten Skispitzen bilden mit dem dazwischen liegenden Körper eine breitere Luftauflage. Sie misst 0,7 Quadratmeter anstatt der 0,5 Quadratmeter, die die parallele Skiführung hergibt. Auf einer 90-Meter-Schanze kommt ein V-Mann daher bis zu sieben Meter weiter als ein Traditionalist.

Eine weitere, vergleichbare Verbesserung ist freilich nicht in Sicht. Stattdessen feilen Institute und Sportwissenschaftler überall an biomechanischen Details. Ein Meter zustätzlicher Weite, der sich so herauskitzeln lässt, kann schließlich über Sieg und Niederlage entscheiden. In Deutschland engagiert sich besonders das Chemnitzer Institut für Mechatronik (IfM) für Skispringer.

Die Ingenieure und Mathematiker haben ein Programm entwickelt, um die Dynamik von Skisprüngen virtuell zu simulieren. "Alaska" nennen sie die Software und "Jumpicus" das Computermännchen, das sie nun unermüdlich vom Schanzentisch springen lassen können.

Das Fachwissen über den Sport bekommen die Chemitzer allerdings aus Leipzig vom Institut für Angewandte Trainingswissenschaft (IAT). "Grob gesagt ist es so, dass uns das IAT Windkanal-Daten liefert, auf deren Grundlage wir im Computer eine Simulation erstellen", sagt der Chemnitzer Ingenieur Thomas Härtel.

"Das Leipziger Institut wertet dann unsere Daten aus und reicht sie an Trainer wie Frank Erlbeck weiter, der die Nordischen Kombinierer betreut." Finanziert werden die Projekte vom Bundesinstitut für Sportwissenschaft. Was die Biomechanik betrifft zählt das Chemnitzer Institut zur Weltspitze.

Der Sprung von einer Schanze, den die Forscher mit ihrem Jumpicus simulieren, zählt zu den komplexesten Bewegungsabläufen, die es im Sport gibt. Er zerfällt in drei Teile, von denen der erste und dritte unspektakulär wirken. Teil 1: Während des Anlaufs beschleunigt der Skispringer in der Hocke auf etwa 90 Kilometer pro Stunde.

Einer mehr oder weniger kann zehn Meter Weite bringen oder kosten. Teil 3: In der Flugphase hält sich der Sportler möglichst ruhig. Die Flugkurve sollte möglichst parallel zum Hang verlaufen, der unter der Schanze in einem konvexen Bogen abfällt. Wenn sich die Kurven schneiden, heißt es: Touchdown!

Explosion am Schanzentisch

Die Dynamik des Sports steckt in Teil2, dem explosionsartigen Absprung vom Schanzentisch. "Einerseits muss sich der Sportler nach oben strecken, um mit hoher Geschwindigkeit vom Schanzentisch wegzukommen, andererseits muss er den Oberkörper nach vorn schieben, um einen hohen Drehimpuls zu erreichen", sagt die Mathematikerin Heike Hermsdorf vom Institut für Mechatronik.

Je höher der Drehimpuls, desto schneller erreicht der Sportler die aerodynamisch günstige Flughaltung. "Hohe Absprunggeschwindigkeit plus optimaler Drehimpuls gleich große Weite", sagt Hermsdorf.

Weltklasse oder Bruchlandung? Das entscheidet sich kurz nach dem Schanzentisch. "Diese Zehntelsekunden sind der spannendste Moment", sagt IfM-Mitarbeiter Norman Hofmann. Stellt sich der Springer zu steil in den Wind, raubt ihm der Luftwiderstand Weite. Liegt er zu flach, zerstört er den "Tragflügel", den Körper und Skier bilden.

Norman Hofmann kann mit Hilfe von "Alaska" jede Phase des Sprungs in Einzelbilder zerlegen, kann Jumpicus von vorn, unten, oben, rechts oder links anschauen. Um das Männchen realistisch in den Computer zu bekommen, haben die Chemnitzer Videos von Sprüngen digitalisiert. Die Sportler hatten für die Aufnahmen Punkte am Overall getragen, die ihre Gelenkachsen markierten. So ließ sich die Bewegung des Körpers relativ zum Schanzentisch in das Programm übertragen.

Andere Daten für die Software stammen von Messplatten, die die Belastung der Füße der Sportler registrierten. Sie waren einerseits in den Schanzentisch der Fichtelbergschanze in Oberwiesenthal eingebaut, und lagen andererseits als Messsohlen in den Stiefeln von Skispringern. Während der Sportler erst in die Tiefe gleitet, dann schwebt, wirken auf seine Füße erhebliche Kräfte.

Das Ergebnis zeigt der Monitor: Beim Anlauf wachsen zwei Druck-Gebirge heran, je eines für den linken und den rechten Fuß. "In der Hockhaltung liegt der Druck auf den Fersen", erklärt Thomas Härtel. "Das ändert sich beim Absprung: Dann wandert der Druck in die Fußballen."

Aufgrund des inzwischen angesammelten Wissens könnte sich das IfM-Team einen Springer basteln, den kein Konkurrent je bezwänge. "In der Anlaufspur hat er - bei minimalem Luftwiderstand - viel Masse, um auf Tempo zu kommen", überlegt Heike Hermsdorf. "Beim Absprung besteht er nur aus Muskeln und Sehnen, während er beim Flug ein Leichtgewicht ist." Weil diese Spielerei nur im Computer funktioniert, sind Skispringer immer ein Kompromiss aus diesen Idealen.

Sprunghafte Karrieren

Seriensieger sind selten. Der Deutsche Jens Weißflog (vierfacher Sieger der Vierschanzentournee) und der Finne Janne Ahonen (fünffacher Sieger) bilden spektakuläre Ausnahmen.

In der Regel verlaufen Karrieren so sprunghaft wie die von Sven Hannawald. Erst gewinnt er sämtliche Springen der Vierschanzentournee, danach fällt er in ein so tiefes Leistungsloch, dass er seine Laufbahn beendet. Die Psyche ist für Sieger ebenso wichtig wie der Drehimpuls. Manche Sportler, so ist zu hören, sind davon überzeugt, dass sie in einem roten Anzug weiter springen als in einem schwarzen.

Nervenflattern kann das Institut für Mechatronik mit Jumpicus natürlich nicht simulieren - Computermännchen kennen keine Angst. "Für uns ist das allerdings ein Vorteil", sagt Thomas Härtel. "Wir können unbeeinflusst von solchen Faktoren vergleichen, welche Körperhaltung und welches Material besonders gut geeignet sind."

Dem norwegische Polarforscher Fridtjof Nansen hingegen lagen solche Gedanken noch fern, als er 1884 die ersten Holmenkollen-Hüpfer bewunderte. "Wenn man sieht, wie der Skiläufer frisch und keck den Berg hinabgesaust kommt und wie eine Möwe durch die Luft dahinschwebt, bis er 20 oder 25 Meter weiter abwärts die Erde berührt und in einer Schneewolke weitersaust, durchzittert es den Körper vor Freude und Begeisterung", schrieb er.

© SZ vom 23.02.2008 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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