Neue Spannungsgebiete:Erdbeben-Gefahr in Köln, Wien, Rom

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Früher hätten viele Forscher aus Angst um ihren Ruf nicht gewagt, bislang scheinbar sichere Großstädte vor Katastrophen-Erdbeben zu warnen. Nun wagen sie es: Sogar am Rhein könnten Beben der Stärke 6,5 auftreten.

Axel Bojanowski

Warnungen wie diese hätte bis vor kurzem kaum jemand auszusprechen gewagt - aus Angst, als Katastrophenprediger verhöhnt zu werden. Inzwischen sind die Wissenschaftler mutiger.

Bislang denkt man beim Anblick des Kölner Doms nicht an ein mögliches Erdbeben. Doch vor mehr als 400 Jahren ist hier ein Beben der Stärke 6,5 aufgetreten. Heute würde das Millionenschäden verursachen - und vielen Menschen das Leben kosten. (Foto: Foto: dpa)

Sie erkennen, dass viele Regionen nur scheinbar von Erdbeben verschont werden und warnen vor trügerischer Sicherheit. Geologen und Archäologen entdecken in der Nähe von Metropolen immer mehr Spuren starker Beben, etwa zerrissene antike Ruinen und meterweit versetzte Bodenschichten.

Aus ihren Befunden leiteten die Wissenschaftler vergangene Woche auf einer Konferenz für Erdbeben-Ingenieurkunde und Seismologie in Genf düstere Prognosen ab: In einer stundenlangen Vortragsreihe sagten sie einer Metropole nach der anderen quasi den Untergang voraus.

Städten wie Köln, Wien, Rom, Jerusalem, Schanghai und Seattle bescheinigten sie ein größeres Risiko.

Gefahr vergessen

Viele Großstädte liegen auf oder an der Kollisionsfront zweier Erdplatten. Die Platten schieben sich im Jahr einige Zentimeter voran, wobei sich an ihren Berührungsflächen Spannung aufbaut.

Irgendwann wird der Druck zu groß, das Gestein bricht - es bebt. Doch nicht alle diese Städte sind gleichermaßen bedroht.

Ihre Gefährdung hängt davon ab, wie nahe sie an einer Bruchzone liegen, ob sich die Spannung bei wenigen großen oder vielen kleinen Beben entlädt.

Manchmal sind die Pausen zwischen schweren Beben so groß, dass den Menschen die Gefahr nicht mehr bewusst ist. Und selbst wenn noch historische Aufzeichnungen aus vergangenen Jahrhunderten existieren - die Stärke der Erdstöße lässt sich daraus selten ablesen.

So schockierten die Forscher unlängst die Küstenbewohner Westkanadas und des US-Bundesstaates Washington.

Seit Europäer vor rund 200 Jahren in die Gegend eingewandert sind, hat es in der Region keine stärkeren Erdbeben gegeben. Freilich wunderte man sich über Legenden der Ureinwohner, die von Geistern berichten, die die Erde erzittern lassen.

Doch die Juan-de-Fuca-Erdplatte vor der Küste schien sich reibungslos unter die Nordamerikanische Platte zu schieben. Ein Trugschluss, wie sich herausstellen sollte: Zunächst fanden Geologen im Meer vor der Küste Washingtons die Überreste eines Fichtenwaldes.

Nur wenige Minuten zur Flucht

Die Jahresringe der Baumstämme zeigen, dass der Wald im Frühjahr 1700 im Meer versunken sein muss. Doch ein Anstieg des Meeresspiegels kommt für die Überschwemmung nicht in Frage.

Die entscheidende Spur führte auf die andere Pazifikseite: Am 27. Januar 1700 berichteten japanische Chroniken von verheerenden Tsunamis - doch ein Beben, das die Wellen ausgelöst hätte, verzeichneten sie in Japan nicht.

Die Erdstöße hätten sich Tausende Kilometer entfernt vor der Küste der USA ereignet, erklären nun Forscher um Susan Hough vom Geologischen Dienst der USA. Der Schlag habe Tsunamis durch den ganzen Pazifik geschickt und die Küste Washingtons mehrere Meter absinken lassen.

Skelette unter Mauerresten

Ein dramatischer Befund. Denn in den vergangenen 300 Jahren könnte sich genügend Spannung für ein ähnliches Beben aufgestaut haben, glaubt Hough. Entsprechende Erschütterungen würden in den Großstädten Seattle, Portland und Vancouver beträchtlichen Schaden anrichten.

Und den Menschen an den Westküsten der USA und Kanadas blieben bis zum Eintreffen möglicher Riesenwellen nur wenige Minuten zur Flucht.

Die Küstenbewohner des Mittelmeers kennen diese Gefahr, dort bebt es regelmäßig. Allerdings finden Wissenschaftler immer mehr Belege dafür, dass die Region oft von einer Katastrophe der besonderen Art heimgesucht wird: einem sogenannten "Erdbeben-Sturm" - also von vielen Starkbeben binnen weniger Jahre.

Im vierten Jahrhundert sei das geschehen, sagen Paläoseismologen, wie die Experten für Erdbeben der Vergangenheit genannt werden. Zahlreiche florierende Küstenstädte seien nacheinander von mehreren Starkbeben verwüstet worden.

Archäologen konnten zeigen, dass Zerstörungen an Ruinen aus jener Zeit in Alexandria und in römischen Städten in Libyen, Zypern und Sizilien eindeutig von Erdbeben verursacht worden sind.

Die Schwierigkeit für die Forscher bestand darin, zu unterscheiden, ob es sich um von Menschen herbeigeführte Verwüstungen, gewöhnlichen Verfall oder um Erdbebenschäden handelt.

Sind Gebäude in einem weiten Umkreis von ähnlichen Zerstörungen betroffen, ist das ein Hinweis auf Beben. Langsam verfallende Gebäude weisen zudem typische Schichtungen der Steinbrösel beidseits der Mauern auf, berichtete Fabrizio Galadini vom Nationalen Geoforschungsinstitut in Italien (INGV) auf der Tagung in Genf.

Beginn einer neuen Beben-Serie

Und schließlich lagen in den antiken Mittelmeerstädten Skelette unter umgestürzten Mauern - Menschen und Tiere wurden offensichtlich von plötzlich kollabierenden Bauten erschlagen.

Zudem dokumentieren dort Steingravuren, Töpfereien und Münzen, dass sich die Katastrophen um das Jahr 365 ereignet haben. Erhöht liegende ehemalige Strände offenbaren, dass sich weite Küstenabschnitte zu jener Zeit um mehrere Meter gehoben haben.

Auch am Ende der Bronzezeit vor 3200 Jahren habe ein Erdbeben-Sturm die Region heimgesucht, schreibt Amos Nur von der Stanford-Universität jetzt im Fachblatt Eos (Bd.87, S.317, 2006).

Das nächste Starkbeben in der Region könne der Beginn einer neuen Beben-Serie sein, vermutet Nur. Vermutlich werde bei einem Erdbeben die Spannung im lang gestreckten Bruch im Gestein verschoben - und markiere so den nächsten Bebenherd.

Der nächste Beben-Sturm könnte auch im Nahen Osten seinen Anfang nehmen. Denn die mehr als tausend Kilometer lange Tote-Meer-Verwerfung ist seit acht Jahrhunderten von Starkbeben weitgehend verschont geblieben.

Zuvor jedoch hatte es dort regelmäßig gebebt, wie deutsche und israelische Wissenschaftler nun unabhängig voneinander herausgefunden haben. Das zeigen Altersbestimmungen von Pflanzenresten an einem Aquädukt in Missyaf in Syrien, der über die Erdbebennaht führt und von den Beben zerrissen wurde, berichten Pieter Grootes und Marie-Josée Nadeau von der Universität Kiel.

Die Bewohner von Beirut, Jerusalem, Amman oder Damaskus wähnen sich in trügerischer Sicherheit, bestätigten Forscher um Shmulik Marco von der Universität Tel Aviv auf der Tagung in Genf.

Sie hatten die Erdbebengeschichte der Region anhand von Gebäudeschäden analysiert. Mit schweren Beben im Nahen Osten müsse trotz der langen Ruhephase jederzeit gerechnet werden.

Auf schaukelnden Sand gebaut

Die Liste der gefährdeten Metropolen ist lang. Neuerdings steht auch Wien darauf, wo Paläoseismologen jüngst eine schlafende Erdbebennaht entdeckten.

Gewaltige Sandhaufen am Grund von Schweizer Seen künden zudem von Starkbeben in der Schweiz.

Bei den Erschütterungen rutschten die Massen in die Seen und lösten Tsunamis aus. Auch in Deutschland kann es entlang des Rheingrabens zu schwereren Beben kommen als vermutet.

Schäden an der römischen Stadtmauer und im Prätorium in Köln zeigten, dass um die Jahre 400 und 800 Beben der Stärke 6,5 aufgetreten sind, sagen Forscher um Klaus-Günter Hinzen von der Universität Köln. Solch ein Schlag würde Schäden von knapp 100 Milliarden Euro verursachen und viele Tote und Verletzte fordern, kalkuliert die Münchener Rückversicherung.

Sogar abseits von Bruchzonen gelegene Städte wie Rom und Schanghai müssen offenbar mit Erdstößen rechnen. Ihr Untergrund verstärkt die Schwingungen weit entfernter Erschütterungen, wie Forscher herausfanden.

Der Sand unter der Ewigen Stadt etwa würde bei einem Starkbeben, das in einer mehr als 100 Kilometer entfernten Bruchzone entstehen könnte, eine Minute lang beträchtlich schaukeln.

Insbesondere ältere Gebäude würden zusammenbrechen, haben Kim Olsen von der San Diego State University und Kollegen ermittelt. In Schanghai wären vor allem mittelhohe Bauten bedroht, berichtete Stephen Cole von der University of East Anglia in Großbritannien auf der Genfer Konferenz.

Bisweilen halten Paläoseismologen indes auch gute Nachrichten bereit. Die Stadt Pollino in Kalabrien etwa wartete bislang auf ein lange überfälliges Beben.

Doch nun entdeckte Viviana Castelli vom INGV, dass die Region in den vergangenen Jahrhunderten bereits mehrfach erschüttert und die Spannung abgebaut wurde - Entwarnung wenigstens für Kalabrien.

© SZ vom 15.9.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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