Neandertaler:Der ferne Vetter

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Vor 150 Jahren stießen Steinbrucharbeiter im Neandertal östlich von Düsseldorf zufällig auf seltsame Knochen. Journalisten einer lokalen Zeitung wussten gleich, worum es sich handelte: "Flachköpfe, wie sie noch heute im amerikanischen Westen wohnen."

Es ist Anfang August 1856, als zwei Steinbrucharbeiter im Neandertal östlich von Düsseldorf zufällig beim Ausschaufeln einer Höhle auf seltsame dunkelbraune Knochen stoßen.

Ralf W. Schmitz (rechts) und Jürgen Thissen war es 1997 gelungen, den historischen Neandertaler-Fundplatz bei Mettmann wiederzufinden. (Foto: Foto: dpa)

Was zunächst wie die Überreste eines Höhlenbären aussieht, erkennt der Schullehrer Johann Carl Fuhlrott - nicht zuletzt wegen des seltsam flachen Schädeldachs mit den markanten Knochenwülsten über den großen Augenhöhlen - mit der Unvoreingenommenheit des Laien als Zeugnisse einer urtümlichen Menschenform.

"Dem Geschlecht der Flachköpfe, deren noch heute im amerikanischen Westen wohnen" sei der mysteriöse Knochenfund wohl zuzurechnen, berichtet am 4. September 1856 das Barmer Bürgerblatt.

Der Sturm der Entrüstung ist nun nicht mehr zu stoppen, in dem Fuhlrott kaum Verbündete findet - während Charles Darwin im fernen England gerade erst über seine epochalen Schriften zur Evolution grübelt.

Ein Rachitis-Kranker mit krummen Beinen

Die Skelett-Stücke aus dem Neandertal stammten doch wohl von einem Kosaken aus dem Russenheer als Verfolger Napoleons; allenfalls sind sie einem Rachitis-Kranken mit krummen Beinen zuzuordnen, urteilt der Nestor des Berliner Forscher-Establishments, Rudolf Virchow, unnachgiebig bis zu seinem Tod 1902.

Hatte nicht Gott den Menschen erst vor gut 6000 Jahren nach seinem Ebenbild genau so geschaffen, wie er heute die Erde bevölkert? Nachhaltig brachten die 16 Knochenfragmente aus dem Neandertal dieses selbst bei fast allen Wissenschaftlern der Zeit gültige Weltbild ins Wanken.

Der Homo neanderthalensis ist 150 Jahre nach seiner und der Entdeckung von mittlerweile rund 300 weiteren Exemplaren in Europa und Nahost der weltweit populärste und am besten erforschte Urmensch. "Die Neandertaler waren viel weiter entwickelt, als wir bislang dachten", sagt der Frankfurter Paläobiologe Friedeman Schrenk.

Zu einem regelrechten "Quantensprung" in der Neandertaler-Forschung kam es ab 1997, als die teilweise Entschlüsselung des Erbgutes an dem kostbaren Fund von 1856 gelang.

Beinahe gleichzeitig stießen die beiden Archäologen Jürgen Thissen und Ralf W. Schmitz mit Detektivmethoden im Tal der Düssel auf den alten Fundplatz von 1856 und damit auf weitere Fragmente des historischen Skelettes sowie eines zweiten Neandertalers.

Keine direkten Vorfahren

Beide waren, so zeigten kürzlich C14- Tests, vor rund 42.000 Jahren in der mittlerweile durch Kalkabbau verschwundenen Höhle begraben worden.

Die DNA-Untersuchung und auch nachfolgende Proben an anderen Neandertalern ergab, dass diese vor 27.000 Jahren spurlos verschwundene Menschenart wohl nicht direkte Vorfahren, sondern Cousins der heutigen Menschen sind, die sich mit dem Homo erectus vor rund einer halben Million Jahre den letzten gemeinsamen Urahn teilten.

Winzige, gerade erst ausgegrabene Feuersteinwerkzeuge, der Nachweis des Gebrauchs äußerst kompliziert zu destillierenden Birkenpechs als erster Leim der Menschheit und die Liebe zu Mineralfarben lassen keinen Zweifel mehr an der Intelligenz des Vetters aus der Eiszeit, der Verwundete pflegte und seine Toten sorgfältig bestattete.

Dass alle diese Kulturtechniken oder auch die regelmäßigen Wanderungen über weite Strecken eine wie auch immer geartete Sprache voraussetzen, ist für den Neandertaler-Forscher Schmitz von der Universität Tübingen klar.

An 19 Uni-Instituten arbeiten unter seiner Leitung 26 internationale Wissenschaftler, um weiteres Licht ins Dunkel der Geschichte der frühen Europäer zu bringen.

Eingehende Knochenuntersuchungen zeigten, dass sich diese Menschen, die rund 200.000 Jahre lang teils rasch wechselnde Kälte- und Wärmeperioden des Kontinents durchstanden, sich fast ausschließlich von Fleisch ernährten.

Ob diese Fixierung auf das Grundnahrungsmittel, eingeschleppte Infektionen oder schlicht eine zu geringe Geburtenrate gegenüber dem langsam aus Afrika einwandernden modernen Menschen dem Neandertaler schließlich das evolutionäre Aus beschert haben, ist bis heute eine der großen Fragen der Urmenschen-Forschung - und wohl auch für das Selbstverständnis des heutigen Homo sapiens.

Revolutionäre Erkenntnisse erwartet

Mit dem gerade in Leipzig startenden "Neandertaler-Genom-Projekt" des Paläogenetikers Svante Pääbo dürften in den nächsten Jahren weitere revolutionäre Erkennnisse aus dem Erbgut des Eiszeitlers "ausgegraben" werden. Die Datenbank TNT (The Neanderthal Tools) macht alle archäologischen Funde und Fossilien der Neandertaler weltweit der Fachwelt als virtuelle 3D-Modelle zugänglich.

Auch im Boden des zum Park gestalteten historischen Fundplatzes im Neandertal ruht nach Einschätzung von Schmitz noch genügend Material für künftige Forscher. Rund 1,7 Millionen Besucher binnen eines Jahrzehnts im direkt benachbarten Neanderthal-Museum sprechen deutlich für das ungebrochene Interesse des Homo sapiens an seinem fernen Vetter.

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