Mitgefühl als reine Nervensache:Hirn statt Herz

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Ein paar Häufchen Zellen befähigen offenbar zu Empathie, Intuition und Vorahnungen.

Von Werner Bartens

Da ist dieses Kribbeln im Bauch und diese Ungeduld. Die Verliebten stehen sich in banger Erwartung gegenüber und plötzlich spüren beide, dass sie sich gleich küssen werden. Woher wissen sie nur, dass ausgerechnet jetzt der richtige Moment dafür ist?

Mitgefühl und Vorahnungen kommen wohl doch nicht aus dem Bauch, sondern aus dem Hirn. (Foto: Foto: dpa)

Oder beim Füttern eines Babys: Viele Erwachsene machen selbst den Mund auf, wenn sie den Löffel zum Mund der Kleinen führen. Haben sie etwa auch Hunger? Und warum ist Gähnen so ansteckend und Lachen auch?

Die Wissenschaft favorisiert eine faszinierende Hypothese, um diese Phänomene zu erklären, ob man sie Mitgefühl, Vorahnung oder Intuition nennen mag: Nervenzellen im Scheitellappen des Gehirns könnten dafür verantwortlich sein, dass Menschen Handlungen vorausahnen, bevor sie geschehen, und aus kaum merklichen Bewegungen schließen, was wohl als nächstes folgen wird.

Weil diese Nervenzellen nicht nur während eigener Handlungen feuern, sondern auch auf das Verhalten eines Gegenübers reagieren, werden sie als Spiegelzellen bezeichnet. "Auch wenn der endgültige Beweis noch nicht erbracht ist, dass Menschen Spiegelneuronen haben, sind die Hinweise dafür überzeugend", sagt Christian Keysers, Hirnforscher an der Universität Groningen.

Das Gespür für Ekel

Denn entdeckt hat die mitfühlenden Nervenzellen der Physiologe Giacomo Rizzolatti aus Parma vor gut zehn Jahren bei Affen. Im Fachblatt Science haben Rizzolatti und sein Team vor kurzem die unterschiedlichen Funktionen der Spiegelneuronen beschrieben (Bd.308, S.662, 2005).

Die italienischen Neuroforscher haben in ihren Versuchen Affen zu komplexen Handlungen angeregt und ihnen ebensolche gezeigt. Dabei wurde das elektrische Potenzial der Spiegelneuronen mit Hilfe feiner Elektroden im Gehirn gemessen.

Wie weit das neuronale Erkennen und Vorausahnen gehen kann, zeigen die Ergebnisse der Forscher: Die Spiegelzellen werden auch dann aktiviert, wenn der Affe sieht, wie jemand die Hand nach einer Banane ausstreckt, das Ergreifen der Frucht aber verdeckt ist.

Auch die Art der Tätigkeit beeinflusst offenbar die Erregung der Nervenzellen. Rizzolatti fand heraus, dass es eine Untergruppe der empathischen Zellen gibt, die unterschiedlich reagiert - je nachdem ob die Banane gegessen oder in einem Gefäß deponiert wird.

Dieselben Differenzen in der Nervenaktivität lassen sich ableiten, wenn der Affe die Bewegung lediglich sieht, aber nicht selbst zugreift.

Die Forscher wollten sicherstellen, dass die unterschiedliche Nervenaktivierung nicht allein auf der unterschiedlichen Bewegung beruhte. Sie ließen die Tiere deshalb einen Gegenstand nehmen und über der Schulter in Mundhöhe platzieren.

Hierbei zeigte sich: Eine Untergruppe der Spiegelneuronen feuerte abhängig davon, ob der Affe Nahrung oder einen Gegenstand im Gefäß unterbrachte. Die Auswahl, welche Spiegelneuronen aktiviert werden, ist anscheinend abhängig vom Zusammenhang, in dem die Bewegung steht und vom Zweck des Gegenstandes. Affen scheinen erkennen zu können, ob ein Griff dazu dient, aufzuräumen, zu essen oder sich zu kratzen.

Nicht nur sehen, auch verstehen

Es liegt nahe, diese Ergebnisse auf menschliches Verhalten zu übertragen, auch wenn die entsprechenden Nervenzellen beim Menschen bisher längst nicht so detailliert beschrieben wurden wie bei Affen.

Dennoch weisen Spiegelneuronen auf ein "einmaliges Prinzip des Gehirns hin, um das Selbst mit einem Fremden zu verbinden", schreiben die Physiologen Kiyoshi Nakahara und Yasushi Miyashita von der Universität Tokio in ihrem begleitenden Kommentar in Science.

Die neuronalen Resonanzphänomene könnten erklären, warum es nicht nur möglich ist, Handlungen des Gegenübers zu erahnen, sondern auch zu verstehen, in welcher Absicht sie ausgeführt werden.

So schließt jeder menschliche Beobachter aus dem Umfeld und der Art des Zugriffs, ob eine Tasse angefasst wird, um zu trinken oder um sie wegzuräumen.

Mitgefühl und Empathie sind im Gehirn jedoch nicht nur auf das begrenzt, was beim Affen den Spiegelneuronen entspricht. Christian Keysers hat in den vergangenen Jahren mittels funktioneller Kernspinaufnahmen zeigen können, welche Hirnareale noch beteiligt sind.

So wird im so genannten sekundären prämotorischen Kortex - einer Hirnregion zwischen Stirn- und Scheitellappen - der Tastsinn aktiviert, wenn Probanden am Bein gestreichelt werden. Ein ähnliches Aktivierungsmuster ergibt sich, wenn Menschen im Film sehen, wie eine Giftspinne über das Knie von James Bond krabbelt und sie dabei Gänsehaut bekommen (Neuron, Bd.42, S.335, 2004).

Auch die Empfindung von Ekel konnte Keysers verorten, als er noch bei Rizzolatti in Parma forschte - in der Inselregion, ganz in der Nähe der Geruchs- und Geschmackszentren.

Keysers Forschungen wurden indirekt von Kranken bestätigt: Patienten, die an einer seltenen Störung im Inselbereich leiden und keinen Ekel empfinden können, sind nicht in der Lage, im Film oder bei ihrem Gegenüber wahrzunehmen, wenn jemand aus Ekel das Gesicht verzieht.

Die Flirt-Neuronen

Der Freiburger Psychiater Joachim Bauer hat den Spiegelneuronen ein neues Buch gewidmet ("Warum ich fühle, was du fühlst", Hoffmann und Campe 2005).

Er hält sie für eine zentrale Schaltstelle der sozialen Interaktion. Wenn beim Flirt die Augen werben oder verschämt wegschauen, wenn gemobbt wird und sich die Blicke nicht mal mehr zur Begrüßung kreuzen - immer seien die Spiegelneuronen im Spiel, so Bauer.

Ob man im Gespräch die Beine in dem Moment übereinander schlägt, in dem es der andere tut, oder ob man in der Fußgängerzone Entgegenkommenden ausweicht, ohne sich über die Richtung verständigt zu haben, ob der Torwart beim Elfmeter die richtige Ecke erspürt - alles könnte eine Leistung der Neuronen sein.

Intuition, Mitleid und zarte Ahnungen als reine Nervensache? So weit würde Keysers nicht gehen: "Alle Implikationen für das Sozialleben von Menschen sind noch spekulativ", sagt der Hirnforscher. "Aber es ist natürlich verführerisch, daran zu glauben."

© SZ vom 17.6.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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