Medizin:"Wir wollen, dass weniger Ärzte ihre Patienten töten"

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Beweise statt Behauptungen: Mediziner der Cochrane Collaboration überprüfen, welche medizinischen Methoden wirklich wirken.

Martin Kotynek

Sie sind die Rebellen der Medizin. Ihre Waffe ist die Evidenz, sie glauben also nur, was sich beweisen lässt. Es sind junge Enthusiasten und arrivierte Professoren der Cochrane Collaboration, die nur ein Ziel haben. "Wir wollen, dass es weniger wahrscheinlich wird, dass Ärzte ihre Patienten töten", sagt Iain Chalmers, der die Organisation vor 16 Jahren gegründet hat.

Endoskopische Eingriffe sind nicht immer besser als die klassische Operation. (Foto: Foto: ddp)

In einem Flüchtlingslager im Gaza-Streifen wurde Chalmers Ende der 1960er Jahre bewusst, dass "ich Patienten aus den besten Vorsätzen heraus und basierend auf dem, was ich im Medizinstudium gelernt habe, töte".

Chalmers beschloss, nach den Beweisen für das Lehrbuch-Wissen zu suchen und sammelte alle relevanten Studien zu seinem Spezialgebiet. 23 Jahre nach der Publikation seiner ersten Sammlung tun ihm das heute weltweit 15.000 Freiwillige gleich. Knapp 900 von ihnen sind in der vergangenen Woche in Freiburg zu einem jährlich stattfindenden Kolloquium zusammengekommen.

Viele etablierte Behandlungsmethoden ohne Erfolgsnachweis

Gemäß einer Forderung des britischen Arztes Archibald Cochrane, nach dem die Vereinigung benannt ist, sammeln die Mediziner klinische Studien, werten ihre Qualität aus und fassen sie in ständig aktualisierten, systematischen Übersichtsarbeiten zusammen. Dabei wenden sie strenge Qualitätskriterien und statistische Methoden an, die den Ruf haben, besonders exakt zu sein.

Nach einer solchen Analyse stellt sich häufig heraus, dass es für viele etablierte Behandlungsmethoden keine Beweise gibt oder dass sich die Beweislage durch neue Studien geändert hat. Dann kommt etwa zutage, dass seit den 1960er Jahren schätzungsweise 50.000 Säuglinge sterben mussten, weil ihre Eltern den ärztlichen Rat befolgten, sie auf dem Bauch schlafen zu lassen.

Die Beweise für diesen Rat fehlten jedoch und schon in den 1970er Jahren gab es Hinweise, dass Säuglinge plötzlich sterben können, wenn sie auf dem Bauch liegen. "Immer wieder mussten wir einsehen, dass die Medizin etwas anderes lehrt als die Beweise nahelegen", sagt Chalmers.

So geraten Cochrane-Mediziner immer wieder mit dem Gesundheitssystem in Konflikt. Sie überbringen nämlich oft schlechte Nachrichten: "Es gibt Widerstand in der Medizin, denn wir vermitteln ja, dass auch Ärzte nicht immer recht haben und dass auch in diesem Moment Behandlungen stattfinden, die sich als gesundheitsschädlich herausstellen werden", sagt Chalmers.

Zudem sei Evidenz unabhängig von hierarchischen Strukturen, die im Gesundheitswesen stark ausgeprägt sind, sagt Gordon Guyatt, der den Begriff evidenzbasierte Medizin vor 16 Jahren geprägt hat: "Beweise kümmern sich nicht um Hierarchien, da hat jeder gleich viel recht - ob Chefarzt oder Student."

Entsprechend groß sei die Abneigung vieler leitender Ärzte gegenüber Cochrane, sagt Guyatt. Sie würden häufig auf ihre Erfahrung pochen und neue Beweise ablehnen. "Es fällt schwer, zu akzeptieren, dass Therapien, von denen man seit Jahren überzeugt ist, gefährlich oder falsch sind", sagt Guyatt.

So zeigte sich Mitte der 90er-Jahre, dass die endoskopische Entfernung der Gallenblase keineswegs schonender ist als der klassische operative Eingriff. Die Schlüssellochtechnik mag eleganter wirken, für den Heilungsverlauf ist es aber offenbar egal, ob der Schnitt in der Bauchdecke ein bisschen größer ist.

Auch die Behandlung der Lungenunreife bei Frühgeborenen hat vermutlich zwischen 1970 und 1990 Tausende Opfer gekostet, weil Ärzten die Therapie mit Kortison suspekt war, der ersehnte spezifische Wirkstoff "Surfactant" aber erst 1990 zur Verfügung stand. Vergleichsstudien zeigten dann zu Beginn der 90er-Jahre, dass beide Verfahren ähnlich gut wirkten - Kortison war zuvor aber nur sehr zurückhaltend eingesetzt worden, was etlichen Babys das Leben kostete.

"Cochrane gibt keine Anweisungen heraus"

Viele Cochrane-Mitarbeiter und -Gutachter berichten von Versuchen ihrer Vorgesetzten oder der Behörden, die Veröffentlichung ihrer Übersichtsstudien zu verhindern. Immer wieder hören sie den Vorwurf, "Kochbuch-Medizin" zu betreiben, Ärzten also praxisferne Anweisungen zu geben.

"Das ist ein großes Missverständnis", sagt der Kanadier Guyatt: "Cochrane gibt keine Anweisungen oder Richtlinien heraus, wir legen dem Entscheider am Krankenbett nur die bestmögliche Evidenz vor." Was er damit anfange, bleibe dem Arzt überlassen und sei vom Kontext abhängig, sagt Guyatt.

So müsse man in Afrika bei derselben Krankheit anders entscheiden als in Europa. "Interessant an der Kritik der Kochbuch-Medizin ist, dass jene Informationsquellen unter Ärzten am beliebtesten sind, die klare Rezepte geben, was zu tun ist", hat Guyatt beobachtet.

In Deutschland haben Ärzte häufig keinen Zugang zu evidenzbasierten Informationen. "Wir sind weit davon entfernt, Evidenz im deutschen Gesundheitssystem ausreichend zu nutzen", sagt Gerd Antes, der das Deutsche Cochrane Zentrum in Freiburg leitet.

Neben dem Akzeptanzproblem im hierarchischen Gesundheitssystem hat Antes eine Sprachbarriere bemerkt. "Rund 80 Prozent der deutschen Ärzte können oder wollen keine englischsprachigen Studien lesen", sagt er. "Da fast alles, was an medizinischem Wissen generiert wird, auf Englisch veröffentlicht wird, schaffen wir es nicht, dieses Wissen in die deutsche Gesundheitsversorgung zu überführen."

Laien müssen die Ergebnisse verstehen können

Während andere Staaten alle Übersichtsarbeiten in ihre Landessprache übersetzt haben, besitzen in Deutschland nicht mal alle Kliniken Zugang zur englischsprachigen Cochrane-Bibliothek. In Indien, Südamerika, Australien oder Großbritannien kann jeder Einwohner kostenlos auf die Studien zugreifen, in Deutschland scheiterte der Service bisher an den etwa 900.000 Euro, die der Dienst jährlich kosten würde.

"Verglichen mit dem Leid und den Kosten, die durch falsche Therapien entstehen, ist dieser Betrag verschwindend gering", sagt Antes. Politik, Ärzteverbände oder Krankenhausbetreiber sollten diese Summe aufbringen, um allen Einwohnern freien Zugang zur Cochrane-Bibliothek zu ermöglichen, darin sind sich die meisten Experten einig.

"Wie sollen Patient und Arzt denn gemeinsam entscheiden, was die beste Therapie ist, wenn sich keiner von beiden über die Beweislage zu den Behandlungsmöglichkeiten informieren kann?", fragt Antes. "Die Bürger erhalten die Früchte der Investitionen, die aus ihrem Steuergeld in die Forschung fließen, nicht zurück", klagt auch Cochrane-Pionier Chalmers.

Die Beziehung zwischen Patienten und der Cochrane Collaboration ist jedoch gespannt. Chalmers und Antes bemängeln, dass die Übersichtsarbeiten für Patienten unverständlich sind. "Wenn unsere Arbeit nicht die Patienten erreicht, ist sie vergeblich", sagt Chalmers.

Antes fordert daher, dass Cochrane "die Ergebnisse endlich so aufbereiten muss, dass sie Laien verstehen". Sein Institut bietet in Freiburg einen Volkshochschul-Kurs über seriöse Informationsquellen im Internet an. In Deutschland kann Antes den Dienst Gesundheitsinformation.de des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG) empfehlen.

"Die Dinosaurier in den Chefarztetagen werden aussterben"

Andere Cochrane-Forscher, wie Gordon Guyatt sind hingegen der Ansicht, dass "Patienten gar keinen Zugang zu Originalstudien brauchen". Patienten müssten ihrem Arzt lediglich die richtigen Fragen stellen, sagt Guyatt: "Was sind Vorteile und mögliche unerwünschte Konsequenzen einer Therapie? Wie sicher ist sich der Arzt dabei?"

Weil immer mehr Patienten nicht mehr blind ihrem Arzt vertrauen, seien auch immer mehr Mediziner gezwungen, sich mit Beweisen für Therapien zu beschäftigen, sagt Hilda Bastian, beim IQWIG für Patienteninformation zuständig. "Die Patienten holen auf, sie erwarten, dass ihr Arzt auf dem neuesten Stand ist. Ärzte müssen stärker versuchen, mit ihren Patienten Schritt zu halten", sagt Bastian.

Damit den Medizinern das möglich ist, fordert Bastian mehr Zeit für Ärzte, um sich zu informieren. Zudem dürfe die Weiterbildung der Ärzte nicht länger abhängig von der Pharmaindustrie sein. "In Deutschland ist die Nähe zwischen Industrie und Ärzten viel zu groß. Die Ärzte sollten sich wieder stärker an den tatsächlichen Beweisen orientieren", sagt Bastian.

Trotz aller Probleme stünden die Chancen, dass sich der Stellenwert des wissenschaftlichen Beweises erhöht, hoch. Wer sich gegen den Trend stemme, verliere, sagt Evidenz-Pionier Gordon Guyatt: "Die Dinosaurier in den Chefarztetagen werden aussterben. Ihr Untergang ist unvermeidlich."

© SZ vom 16.10.2008/mcs - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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