Mechanik:Vom Mythos zum Logos

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Menschliche Mechanik: Im 16. Jahrhundert erzeugte die tanzende, augenrollende Puppe vermutlich nicht weniger Faszination (und Bedrohungsgefühl) wie heute selbstfahrende Autos und Künstliche Intelligenz. (Foto: Museo del Violino, Cremona)

Eine Ausstellung in Cremona beleuchtet das Werk des im 16. Jahrhundert wirkenden genialen Uhrmachers und Apparatebauers Janello Torriani.

Von Thomas Steinfeld

Ein verbreitetes Vorurteil besagt, die Industrialisierung beginne mit der Dampfmaschine. Der Satz stimmt aber allenfalls zur Hälfte. Denn die Dampfmaschine liefert zwar Kraft in großen Mengen und ist, sogar buchstäblich, der Motor der frühen Industrialisierung. Der Motor aber bleibt wirkungslos, solange die Kraft nicht gelenkt und auf Räder oder Walzen übertragen werden kann. Genauso ließe sich deswegen sagen, die Industrialisierung beginne viel früher, nämlich mit dem Getriebe.

Zeitlich ist das eine große Spanne: Zwischen der Entwicklung von komplizierten Räderwerken für den alltäglichen Gebrauch und den ersten funktionsfähigen Dampfmaschinen liegen etwa vierhundert Jahre. Die Urgeschichte der entsprechenden Mechanik geht also tief zurück in vorindustrielle Verhältnisse, ins Handwerk und in die Herstellung von Einzelstücken. Der Uhrmacher ist die Gestalt, die am historischen Anfang der Industrialisierung steht, und das keineswegs nur, weil er Instrumente zur Messung der Zeit schafft (die ebenfalls zu den Voraussetzungen der Mechanisierung gehören), sondern auch, weil er die Karriere des Getriebes anstößt.

Eine Maschine hatte einst zweifelhaften moralischen Status: faszinierend und bedrohlich

In Cremona, einer alten Stadt mittlerer Größe am südlichen Rand der Po-Ebene, lebte im frühen 16. Jahrhundert ein Handwerker namens Janello Torriani. Ihm, einer der Gründerfiguren der avancierten Mechanik, widmet das Museo del Violino gegenwärtig eine Ausstellung, in der nicht nur deutlich wird, welch komplizierte Gerätschaften die italienische Renaissance erdacht und gebaut hatte, weit über die übliche Bewunderung für Leonardo da Vinci hinaus. Sondern es lässt sich in dieser Schau auch erkennen, was eine Maschine im kulturellen Sinn einmal gewesen war: ein Ding von zweifelhaftem moralischen Status, etwas ebenso Faszinierendes wie Bedrohliches.

Von einer "Mechanisation" wurde früher gesprochen. Das Wort bedeutete, dass etwas auf eine ebenso raffinierte wie unheimliche Art ins Werk gesetzt wurde. Und "Mechanisationen" sind die Dinge, die auf dieser Ausstellung zu sehen sind, astronomische Uhren und automatisierte Puppen, Kombinationsschlösser und Weltmaschinen (Armillarsphären). Ihnen allen ist nicht nur gemein, dass sich in ihnen (im Nachhinein betrachtet) eine Industrialisierung ankündigt, von der ihr Hersteller unmöglich etwas geahnt haben kann, sondern auch, dass diese Apparate weit über ihren praktischen Zweck hinausweisen: Ihnen eignet etwas Spielerisches. Es sind fantastische Getriebe, die gleichsam von ihrem eigenen Antrieb träumen.

Janello Torriani, vermutlich um 1500 geboren und zunächst zum Schmied ausgebildet, hatte es als Uhrmacher zu regionaler Berühmtheit gebracht. Als Kaiser Karl V. um das Jahr 1530 die vermutlich verrostete astronomische Uhr Giovanni de' Dondis in Padua (entstanden 1348 bis 1364) reparieren lassen wollte, stießen seine Leute auf den Mann aus Cremona. Dieser konnte zwar auch nicht helfen, war aber offenbar froh, der Zunftordnung zu entkommen und für den Hof arbeiten zu dürfen. In den folgenden Jahren baute Janello Torriani ein neues Astrarium, das bald als Werk von scheinbar ebenso übermenschlicher Kompliziertheit und Präzision berühmt wurde.

Janello Torriani folgte dem Kaiser, als dieser im Jahr 1555 abdankte und sich in ein Kloster zurückzog. Dort baute er seinem Herrn kleine Automaten, die auf dem Tisch herumspazieren, die Trommel schlagen oder beten konnten. Später, in den Diensten des Sohnes, also Philipps II., wurde Janello Torriani hauptsächlich mit dem Bau hydraulischer Anlagen und anderen Werken der Makromechanik beschäftigt. Seine spektakulärste Arbeit war eine Anlage aus Hunderten von Schaufeln, Rinnen und Rädern, die der Versorgung des Schlosses von Toledo mit dem Wasser eines hundert Meter unterhalb liegenden Flusses diente. Sie ist, wie viele der Schöpfungen Janello Torrianis, in den Zeitläufen untergegangen. Doch weiß man, zum Beispiel von einem Gemälde El Grecos, wie sie ausgesehen und funktioniert haben muss, und die Ausstellung zeigt ein immer noch beeindruckendes - und vor allem: funktionierendes - Modell.

Auch die Planetenuhr, die Janello Torriani für Kaiser Karl V. baute, ist verloren. In der Ausstellung wird versucht, dieses Wunderwerk, das der komplizierteste jemals gebaute Miniaturkosmos gewesen sein soll, durch mehrere ähnliche Uhren jener Zeit zu ersetzen. Und immerhin gibt es ein Gemälde von Jan Brueghel d. Ä., "Das Gehör" aus dem 1617/18 entstandenen Zyklus der "Fünf Sinne", auf dem diese Uhr - neben einigen anderen mechanischen Kostbarkeiten - zu sehen ist.

Doch steht sie dort nicht nur auf dem Tisch, weil sie tickte, weil man an ihr die Laufbahn der Planeten ablesen konnte oder weil sie so wertvoll war. Sie hätte ihre Bedeutung für den kaiserlichen Hof nicht besessen, wäre sie nicht von vornherein über alle Errungenschaften der Astronomie, Mathematik und Mechanik erhaben gewesen: In ihr dokumentiert sich vielmehr auch eine der grundlegenden Leistungen des menschlichen Intellekts, nämlich das Wissen über den wiederkehrenden Charakter der Natur oder, pathetisch formuliert: der Übergang vom Mythos zum Logos.

Unheimlicher noch ist der fast original erhaltene Automat, der die Mitte der Ausstellung bildet und ursprünglich zu einer ganzen Gruppe mechanischer, aufziehbarer Puppen gehörte, die Janello Torriani für den abgedankten Kaiser schuf (Clemens von Brentano hat eine solche Puppe in seinem "Märchen von Gockel und Hinkel" aus dem Jahr 1837 beschrieben). Ungefähr vierzig Zentimeter hoch ist die hölzerne braune Gestalt, in deren Innerem, größtenteils verborgen, ein höchst kompliziertes Getriebe arbeitet: Der Kopf bewegt sich nach links und rechts, die Augen rollen, das Kinn klappt auf und nieder, die Arme schlagen eine Trommel, und während die Gestalt auf versteckten Rollen ein sternförmiges Muster abfährt, trippeln die Füße vor sich hin. Nicht nur die Menschenähnlichkeit ist so verblüffend an diesem Gerät (es ist weitaus menschenähnlicher als eine moderne Puppe), sondern auch seine Bindung an ein zur Mechanik gewordenes Ritual. Der kaiserliche Hof spielt nicht nur mit einer solchen Gestalt, sondern bringt in ihr ein Wissen über sich selbst zum Ausdruck. Von abgründiger Zweideutigkeit muss der Augenblick gewesen sein, in dem die Federkraft erlahmte und die Bewegungen der Puppe zum Stillstand kamen.

Janello Torriani: Genio del Rinascimento. Museo del Violino, Cremona. Bis zum 29. Januar 2017. Der Katalog ist nur auf Italienisch erhältlich und kostet fünf Euro.

© SZ vom 20.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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