Macht Strom krank?:Unter Hochspannung

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Neue Hinweise auf ein erhöhtes Leukämie-Risiko heizen die Debatte um elektromagnetische Felder an.

Von Klaus Koch

Manch einer mag den Tag verfluchen, an dem Richard Stevens seinen Verdacht zum ersten Mal äußerte. In den 80er-Jahren suchte der Amerikaner nach einer Erklärung dafür, weshalb mit zunehmender Industrialisierung eines Landes immer auch die Zahl der Frauen mit Brustkrebs zunimmt.

Arbeiter auf einem Strommast. (Foto: Foto: AP)

Zwar hatten seine Kollegen längst eine Vielzahl möglicher Gründe identifiziert - von Änderungen der Ernährung über die Familienplanung bis hin zur Umweltverschmutzung -, doch den Krebsspezialisten stellte das nicht zufrieden.

Er hatte eine andere Idee: Was ein Land im Aufschwung tatsächlich radikal verändere, sei die Allgegenwart von Elektrizität, dachte er sich. Könnten nicht, so spekulierte Stevens erstmals 1985 im US-Energieministerium, niederfrequente elektromagnetische Felder, wie sie von Leitungen, Kabeln und Elektrogeräten ausgehen, für die Zunahme von Brustkrebs mitverantwortlich sein?

Stevens war nicht allein. Sechs Jahre zuvor hatte bereits seine Kollegin Nancy Wertheimer den gleichen Verdacht für den viel selteneren Blutkrebs bei Kindern geschöpft.

Über 20 Jahre später steht die Vermutung, dass Elektrizität Krebs auslösen kann, immer noch ungeklärt im Raum. "Was wir wissen, reicht nicht aus, um den Schluss zu ziehen, dass es ein Risiko gibt", sagt Stevens heute. "Aber wir können auch nicht sicher sagen, dass es kein Risiko gibt."

Derzeit sieht es nicht so aus, als würde es bald eine klare Antwort geben. Der Grund liegt darin, dass Wissenschaftlern keine Methoden zur Verfügung stehen, um "Ungefährlichkeit" zu beweisen. Gerade für Dinge, mit denen wir täglich zu tun haben, "ist es lediglich möglich, große Gesundheitsgefahren auszuschließen", sagt Maria Blettner von der Universität Mainz.

Wissenschaftler wie Blettner wollen Gesundheitsgefahren elektromagnetischer Felder mit statistischen Methoden auf die Spur kommen, indem sie verschiedene Bevölkerungsgruppen befragen, untersuchen und miteinander vergleichen.

Doch die Werkzeuge sind relativ unscharf. Als Krankheitsfaktoren dingfest lassen sich zum Beispiel Bakterien machen. Auch die Entdeckung, dass Raucher und Asbestarbeiter häufiger an Lungenkrebs erkranken, sind Erfolge des Fachs.

Bei Rauchern ist dieses Krebsrisiko aber etwa zehnfach erhöht. "Hätte Elektrizität vergleichbar starke Wirkungen, wüssten wir die Antwort längst", sagt Blettner.

Doch solche großen Einflüsse sind die Ausnahme. Welcher Aufwand nötig ist, um wesentlich schwächeren Risikofaktoren auf die Spur zu kommen, zeigt jetzt eine neue, nach allen Regeln der Kunst angefertigte britische Studie zum Einfluss elektromagnetischer Felder auf Leukämieerkrankungen bei Kindern British Medical Journal, Bd.330, S.1290, 2005.

Die Forscher haben die Wohnorte von 9700 Kindern, die zwischen 1962 und 1995 an Leukämie erkrankt waren, mit denen von gesunden Altersgenossen verglichen.

Nach der Analyse dieser "Fall-Kontroll-Studie" haben an Blutkrebs erkrankte Kinder tatsächlich etwas häufiger in der Nähe von Hochspannungsleitungen gewohnt. Das Risiko war vor allem dann erhöht, wenn der Abstand zu den Leitungen weniger als 200 Meter betrug. Jenseits von 600 Metern war dagegen kein Unterschied mehr erkennbar.

Absolut gesehen war das Risiko allerdings nicht besonders groß: Umgerechnet hatten von 1000 an Leukämie erkrankten Kindern sieben in unmittelbarer Nähe von Hochspannungsleitungen gewohnt, von 1000 gesunden Kindern waren es nur vier.

Die Autoren geben sich alle Mühe, keine übertriebenen Ängste zu wecken. "Selbst wenn das Risiko real wäre, wäre nur einer von 100 Leukämiefällen auf Hochspannungsleitungen zurückzuführen", schränken sie ein.

In Deutschland ließe sich dann die Krankheit von sechs der etwa 600 Kinder, die pro Jahr an Leukämie erkranken, durch diesen Faktor erklären.

In einer ähnlichen Größenordnung scheint das Risiko für Brustkrebs durch Hochspannungsleitungen zu liegen. Die jüngste Studie dazu stammt aus Norwegen; dort haben Forscher die Wohnorte von 1830 Frauen mit Brustkrebs mit denen von 3600 gesunden Frauen verglichen American Journal of Epidemiology, Bd.159, S.852, 2004.

Das Ergebnis: Von 100 Brustkrebspatientinnen haben zwölf längere Zeit im unmittelbaren Bereich einer Hochspannungsleitung gewohnt, unter den gesunden Frauen waren es nur acht von 100. Diese Steigerung weise "auf eine Assoziation zwischen magnetischen Feldern und Brustkrebs hin", schreiben die Wissenschaftler vorsichtig.

Forscher trauen sich selbst nicht

Sind solche Studien ein Beweis, dass Elektrizität eine Ursache für Krebs ist?

"Nein", sagt Blettner: Studien, die lediglich eine statistische Beziehung zwischen A und B herstellen, "können grundsätzlich nicht beweisen, dass das eine die Ursache des anderen ist." Der Grund: Es lässt sich nicht ausschließen, dass sich Krebspatienten und Kontrollpersonen nicht nur durch ihren Wohnort, sondern auch durch andere, unerkannte Faktoren unterscheiden, die das Krebsrisiko beeinflussen.

Vor allem soziale Faktoren spielen eine wichtige Rolle. Denn sie beeinflussen sowohl die Krebsgefahr als auch die Wohnortwahl. Forscher versuchen zwar, solche Einflüsse zu berücksichtigen, doch sie wissen nie, wie gut ihnen das gelingt.

Das ist der Grund, warum die britischen Forscher ihrer eigenen Leukämie-Studie recht skeptisch gegenüberstehen. "Wir sind nicht sicher, dass es sich wirklich um einen kausalen Zusammenhang handelt", betonen sie.

Das Problem der unerkannten Einflüsse im Hintergrund lässt sich auch durch weitere Untersuchungen dieser Art kaum beseitigen. Mittlerweile hat die andauernde Unsicherheit über die Wirkung elektromagnetischer Felder sogar schwerwiegendere Konsequenzen, als sie ein klarer Nachweis eines Risikos hätte.

Immer wieder werden Gelder für Studien ausgegeben, deren Ergebnisse sich dann widersprechen. Diese Widersprüche haben - auch im Streit um Elektrosmog durch Handys - Wissenschaft und Öffentlichkeit gespalten. Wer voreingenommen genug ist, der findet unter der Vielzahl von wissenschaftlichen Studien genügend, die seine Meinung bestätigen. Da auf der einen Seite die Interessen der großen Stromkonzerne betroffen sind, auf der anderen Seite mit "Schutzvorrichtungen" gegen Elektrosmog viel Geld verdient wird, gibt es genügend Motive für eine einseitige Interpretation.

Insgesamt liegen heute knapp zwei Dutzend Studien an Frauen mit Brustkrebs und Kindern mit Leukämie vor - etwa die Hälfte findet einen Zusammenhang der Krankheiten mit elektromagnetischen Feldern, die andere Hälfte keinen.

Neben Hochspannungsleitungen stehen auch die von Haushaltsgeräten und Stromleitungen abgestrahlten Felder unter Verdacht. Mainzer Forscher fanden vor vier Jahren bei Kindern, in deren Zimmern über Nacht hohe Feldstärken gemessen wurden, ein leicht erhöhtes Leukämie-Risiko.

Hingegen hat Richard Stevens selbst im Jahr 2002 eine Untersuchung an 1600 Amerikanerinnen veröffentlicht, in der er keinen Zusammenhang zwischen Elektrizität und Brustkrebsrisiko gefunden hatte. "Solche Fragen müssen letztlich wie in einem Gerichtsverfahren entschieden werden, wo man das gesamte Be- und Entlastungsmaterial gegeneinander abwägt", sagt Stevens.

Schutz vor der Kaffeemaschine

Entsprechend unterschiedlich reagieren die für den Schutz der Bevölkerung zuständigen Behörden auf die anhaltende Unsicherheit.

In Schweden sind für Haushalts-Elektrogeräte sogar Abschirmmaßnahmen gegen Felder vorgeschrieben. Auch die Weltgesundheitsorganisation stuft elektromagnetische Wechselfelder vorsichtshalber als "mögliches" Krebsrisiko ein.

Deutschen Behörden wie dem Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) in Salzgitter bleibt derzeit ebenfalls nichts anderes übrig, als davon auszugehen, dass Stevens und Wertheimers alter Verdacht zutreffen könnte.

Weil das Risiko als klein eingeschätzt wird, gibt das BfS jedoch nur allgemeine Tipps, wie die Bevölkerung Feldern aus dem Weg gehen kann: Das Amt rät, Strom zu sparen, elektrische Geräte wie Radiowecker vom Bett zu entfernen und nicht in der Nähe von Hochspannungsleitungen zu bauen.

Letztlich muss aber jeder Bürger selbst entscheiden, wie er mit der Unsicherheit umgeht, die Stevens und Wertheimer vor über 20 Jahren in die Welt gesetzt haben. Stevens selbst ist mit der Diskussion, die er ausgelöst hat, indes nicht unzufrieden: "Ich würde es wieder tun."

© SZ vom 16.6.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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