Flugmanöver:Im Absturz-Modus

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Mit dem "Advanced Technology Research Aircraft" (Atra) können Ingenieure Extremsituationen testen (Foto: Evi Blink/DLR; DLR / CC-by-3.0)
  • Mit dem Forschungsairbus Atra haben Testpiloten untersucht, was an den Tragflächen passiert, wenn der Auftrieb verloren geht.
  • Um Abstürze zu simulieren, haben sie das Flugzeug immer wieder in extreme Flugmanöver gezwungen.
  • Die Experimente sollen dabei helfen, neue Flugzeugteile zu entwerfen.

Von Alexander Stirn

Überziehen - für Piloten ist das eines jener Flugmanöver, die sie tunlichst vermeiden möchten: Das Flugzeug wird zu langsam, der Anstellwinkel zwischen Rumpf und Horizontale wird zu steil. Unweigerlich reißt die Strömung über den Tragflächen ab, der Auftrieb geht verloren, die Maschine sackt in die Tiefe. Reagieren Piloten nicht augenblicklich, kommt der Flieger ins Trudeln und ist nur noch schwer abzufangen.

Hans-Jürgen Berns hat sein Flugzeug zuletzt wieder und wieder überzogen. Mit Absicht. Im Dienste der Wissenschaft.

Berns, ein Norddeutscher mit ruhiger, sonorer Stimme, ist Testpilot beim Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR). Sein Arbeitsgerät heißt Atra. Es ist ein modifizierter Airbus A320. Mit ihm untersuchen DLR-Forscher das Wetter im Nordatlantik. Sie beobachten Wirbelschleppen, die andere Flugzeuge hinter sich herziehen. Und sie vermessen die Strömungsverhältnisse über den Tragflächen, denn die geben der Forschung Rätsel auf.

"Für den normalen Reiseflug liefern Computersimulationen gute Ergebnisse", sagt Ralf Rudnik, Ingenieur am Institut für Aerodynamik und Strömungstechnik des DLR in Braunschweig. Sobald ein Flugzeug allerdings in seinen Grenzbereich kommt, ändert sich das, ganz besonders bei Start und Landung: Das Tempo ist niedrig, die Strömung empfindlich. Um überhaupt genügend Auftrieb zu erzeugen, müssen Vorflügel und Landeklappen ausgefahren werden. Zwischen ihnen und dem eigentlichen Flügel öffnen sich Spalten, die den Luftfluss stören. Zudem erzeugt die große runde Triebwerksgondel Wirbel.

Eine Sonde pflügte durch den Luftstrom, um ihn zu messen

"All das ist geometrisch und aerodynamisch viel anspruchsvoller als die Reiseflugkonfiguration", sagt Rudnik. Computersimulationen, die beim Entwurf neuer Flugzeuge oder verbesserter Bauteile inzwischen die Hauptrolle spielen, stoßen an ihre Grenzen. Manche können die Strömung entlang der Oberfläche eines Flügels gut vorhersagen, andere haben ihre Stärken bei den Wirbeln, die dahinter entstehen. Nur: Welches Modell sollen Ingenieure wählen, wenn sie eine neue Konfiguration entwickeln wollen, die beim Landen möglichst geringes Tempo erlaubt und weniger Lärm verursacht? "Da ist noch erheblicher Nachholbedarf", sagt Rudnik.

Deshalb muss Hans-Jürgen Berns in die Luft. Einen Airbus A320 zu überziehen, ist allerdings gar nicht so leicht. Normalerweise greift der Bordcomputer ein, lange bevor es kritisch wird. Er limitiert den Anstellwinkel und gibt notfalls Schub. Einfach abschalten will Berns den Computer bei den Flügen im Rahmen des "Hinva"-Forschungsprogramms ("High Lift Inflight Validation") aber auch nicht. Die Flugsoftware dämpft zum Beispiel Schwingungen, die bei den Versuchen stören würden. Bei den Versuchsflügen, die im vergangenen April von Braunschweig aus unternommen wurden, ist daher eine spezielle Software für den Bordcomputer zum Einsatz gekommen. Zudem bekam Berns Unterstützung von jemandem, der das Flugverhalten der A320 wie kein anderer kennt: Airbus-Testpilot Eckhard Hausser.

Atra war kräftig verkabelt: Auf den linken Flügel haben Rudnik und sein Team sogenannte Rechen geklebt. Gespickt mit Sonden, messen die bis zu 30 Zentimeter langen Lanzen die Geschwindigkeit der vorbeiströmenden Luft in unterschiedlichem Abstand zur Oberfläche. Sie decken dabei die Grenzschicht ab - den Bereich, in dem der Luftstrom die Rundung der Tragfläche spürt und durch sie verändert wird. Auf dem rechten Flügel installierte Rudnik dagegen eine Sonde am Ende eines beweglichen, etwa zehn Zentimeter langen Arms. Angetrieben von einem Motor pflügte der Arm durch den Luftstrom. So ließ sich die Geschwindigkeit der Strömung kontinuierlich bestimmen - mit variablem Abstand zum Flügel. Die Wissenschaftler konnten so zwei Methoden vergleichen.

Es gab allerdings wichtige Detailprobleme: Die beweglichen Sonden brauchten Kontakt zur Stromversorgung, die an der Unterseite der Tragflächen sitzt. Ein fingerdickes Kabel lief deswegen nicht nur über die Vorderkante des Flügels, sondern teilweise auch parallel dazu. "Eigentlich ist das eine Todsünde, da es eine Stolperstufe für die Strömung bildet", sagt "Hinva"-Projektleiter Rudnik. Zwar haben die Ingenieure ihre Kabel verklebt und davor mit Spachtelmasse einen sanften Übergang geformt, trotzdem zeigt sich: Je größer der Anstellwinkel wird, desto mehr stören Kabel.

Vom Piloten Hans-Jürgen Berns verlangte der Versuchsaufbau zusätzliches Fingerspitzengefühl. "Sonst fliegt ein Flugzeug geradeaus, wenn man es überzieht", sagte der Testpilot vor Kurzem auf der Pariser Luftfahrtmesse in Le Bourget, wo das DLR Atra und erste Ergebnisse der "Hinva"-Flüge präsentierte. Aufgrund der asymmetrisch montierten Messgeräte zog bei den Testflügen immer ein Flügel nach unten. "Das mussten wir kompensieren", sagt Berns, "und das ist sehr unschön."

Dabei ist das Überziehen für einen erfahrenen Testpiloten eigentlich kein Problem. Auch bei der Erprobung neuer Flugzeuge müssen entsprechende Manöver geflogen werden - allerdings mit symmetrischen Tragflächen. Das Überziehen tritt dann nicht schlagartig ein, es kündigt sich vielmehr an: Löst sich die Strömung langsam von den Flügeln, wird es laut in der Maschine. Der Rumpf beginnt zu vibrieren. "Das ist schon sehr markant", sagt Berns.

Allein auf sein Gefühl im Sitzfleisch, auf das bei Piloten beliebte Popometer, wollte sich Berns dennoch nicht verlassen. Und für einen starren Blick auf die Instrumente war im Moment des Überziehens auch keine Zeit. Es galt, den Horizont und damit die Bewegung des Flugzeugs im Auge zu behalten. In der Kabine, wo normalerweise die Passagiere sitzen, verfolgten daher Ingenieure vor ihren Computern den stetig wachsenden Anstellwinkel. Er darf mit ausgefahrenen Klappen lediglich etwas mehr als 20 Grad erreichen. Da der Pilot die Triebwerke gedrosselt hatte, stieg die Maschine dabei nicht. Noch wichtiger war allerdings der Blick auf die sogenannte Vertikalbeschleunigung. Sie blieb wie im normalen Horizontalflug bei 1 g: Erdbeschleunigung. Brach der Auftrieb zusammen und sackte die Maschine ab, machte sich das umgehend bei der Vertikalbeschleunigung bemerkbar. "Break", funkte der Ingenieur dann ins Cockpit: "Einbruch".

Um die Maschine abzufangen, drückte der Pilot die Nase nach unten - und wartete einfach

Für Berns und seine Kollegen hieß das: die Nase des Flugzeugs unter den Horizont drücken, 20 Grad, vielleicht 30 Grad. "Und warten", sagt Berns und lacht. "Bei einem so großen Flugzeug dauert das gefühlt ziemlich lange, bestimmt vier oder fünf Sekunden." Erst dann hatte Atra genügend Fahrt aufgenommen, dass die Maschine abgefangen werden konnte. Erst dann durften die Piloten vorsichtig Schub geben: Da die Triebwerke unter den Flügeln hängen, erzeugen sie unweigerlich Drehmoment nach oben. Geben die Piloten zu früh Gas, beginnt die Malaise von vorne.

Bei den Manövern war Atra in einem abgesperrten Luftraum über der Nordsee oder über dünn besiedelten Regionen in Norddeutschland. Die Flughöhe lag bei mindestens 10 000 Fuß (gut 3000 Meter). 1000, im ungünstigsten Fall 2000 Fuß tiefer hatte Berns die Maschine abgefangen und stieg wieder auf ihre Ausgangshöhe - bis zu 30-mal pro Flug.

Um auch Daten von Flügeln ohne Messgeräte zu bekommen, haben die DLR-Forscher auch optische Messungen gemacht. Dazu richteten sie einen Hochleistungslaser durch eines der Flugzeugfenster - etwa auf Höhe der Notausgangssitze - auf die Tragfläche. Vier Kameras nahmen das Geschehen auf. Sichtbar wurden die Strömungsverhältnisse allerdings nur, wenn winzige Partikel durch das Laserlicht flitzten. Woher nehmen mitten in der Luft?

Rudnik entschied sich, durch Wolken zu fliegen und die Nebeltröpfchen zu verfolgen. Das war im vergangenen Januar. "Eine denkbar ungünstige Zeit", schimpft Berns. "Wir sollten mitten im Winter im Dunkeln in Wolken herumfliegen, ohne dass die Tragflächen vereisen." An einen Anstellwinkel im Grenzbereich war während der drei Laserflüge allerdings nicht zu denken. Bei schwierigen Verhältnissen geht nicht einmal ein Testpilot wie Berns, der seit fast 30 Jahren fürs DLR fliegt, über die Grenzen des Bordcomputers hinaus.

Ralf Rudnik ist mit den Ergebnissen dennoch zufrieden. "Zum weltweit ersten Mal konnten wir solch eine Lasermessung bei einem Verkehrsflugzeug machen", sagt der 52-Jährige. Derzeit läuft die Auswertung der Daten. Ist sie abgeschlossen, will Rudnik die Ergebnisse in ein "virtuelles Regal" stellen - eine Referenzbibliothek für künftigen Gebrauch, geordnet nach unterschiedlichen Flugsituationen.

Möchte ein Ingenieur in Zukunft eine neue Flügelkomponente entwerfen, kann er das Problem zunächst mit unterschiedlichen Simulationsmodellen durchrechnen, dann ins Regal mit den realen Messwerten greifen und die Ergebnisse vergleichen. Im Idealfall weiß er dann, welcher der vielen verfügbaren Algorithmen in dieser Situation die besten Resultate liefert. "Mit den neuen Messungen können wir unsere Werkzeuge zur Flugzeugentwicklung endlich schärfen", sagt Rudnik, "und hoffentlich die Fortschritte machen, die wir schon lange machen wollten."

© SZ vom 07.07.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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