Kommentar:Lohn der Angst

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Es ist Zeit, den Gefahren des Globus mit Wissenschaft und Analyse zu begegnen, nicht mit Fatalismus und Reflexen. Der Mensch hat als einziges Lebewesen die Chance, die eigenen evolutionsbedingten Unzulänglichkeiten mit Verstand zu überwinden.

Von Patrick Illinger

Am 26. Dezember 2004 ist ein vergessenes, aus den Köpfen verdrängtes Raubtier wieder in den menschlichen Lebensraum eingedrungen. Der Ozean hat seine hässliche Fratze gezeigt. Und für lange Zeit wird kaum ein Mensch mehr vom Ufer eines Meeres unbesorgt auf den Horizont blicken.

Zerstörungen nach der Flut in Nagapattinam, Indien. (Foto: Foto: Reuters)

Quälend ist dabei, dass die Gefahr einer Flutwelle längst bekannt war. Und dass man einem Tsunami - anders als einem Erdbeben auf dem Festland - mit etwas Vorwarnung verhältnismäßig leicht entkommen kann.

Grauenhaft ist die Vorstellung, dass der Richter-Skalenwert des Seebebens bereits im Internet zu finden war, als die Menschen in Aceh, Phuket und Galle noch arglos ihrem Alltag nachgingen.

Simples und bezahlbares Frühwarnsystem

Erst jetzt ist die Angst groß genug, um ein vergleichsweise simples und bezahlbares Frühwarnsystem einzurichten, wie es im Pazifik längst existiert.

Warum erst jetzt? Warum reagiert die vermeintlich so zivilisierte Menschheit erst dann, wenn eine seit Jahren bekannte, reelle Gefahr zur Katastrophe wird? Was nutzen all die intellektuellen und wissenschaftlichen Fähigkeiten, wenn eine Flutwelle erst als Risiko erkannt wird, wenn sie sich todbringend über die Küsten des Indischen Ozeans wälzt?

Ein wichtiger Teil der Antwort liegt in der Struktur des menschlichen Gehirns begründet. Der Bauplan unseres Denkorgans ist weit älter als die Pyramiden von Gizeh, die Zauberflöte und das Internet.

Der letzte Evolutionsschritt ist lange her

Vor mindestens 50.000 Jahren kam es zum bislang letzten Evolutionsschritt in der Entwicklung der Hominiden, wahrscheinlich ist es noch länger her.

Und um viele der Unzulänglichkeiten des menschlichen Handelns zu verstehen, muss man sich vor Augen führen, welche Umstände das Gehirn einst optimiert haben. Es waren die Grundregeln der Savanne: Entkomme dem Löwen, fang' die Antilope, und hau' dem Feind kräftig eins über den Schädel.

Dazu kamen ein paar Verfeinerungen, wie: Iss die Antilope lieber heute, wer weiß, was morgen kommt. Und: Verkrache dich nicht mit allen auf einmal, du brauchst auch Freunde.

Die seither dazugekommenen, dem Menschen lieb gewordenen intellektuellen Errungenschaften erzeugen leider allzu oft betäubende Selbstüberschätzung.

Wenn es um das nackte Überleben geht, um das Fortbestehen als Individuum ebenso wie als Spezies, verhalten wir uns zumeist stümperhafter als viele jener Kreaturen, auf die wir - von einer vermeintlich höheren Stufe der Evolution aus - so überheblich herabblicken.

Mit abstrakten Risiken und uns theoretisch erscheinenden Gefahren gehen wir noch heute so irrational um wie vor 50000 Jahren in der Savanne.

Die Menschheit als Ganzes sowie der Mensch als Individuum könnten besser und länger leben, wäre der Umgang mit Gefahren rationaler.

Reflexe der Savanne

Natürlich kann es nicht darum gehen, an jeder Straßenkreuzung mathematisch korrekt abzuwägen, ob der Nutzen, die andere Seite zu erreichen, das Risiko, überfahren zu werden, übersteigt. Doch wenn es um grundsätzliche und nachhaltige Entscheidungen geht, die das Fortbestehen ganzer Bevölkerungen betreffen, sollte sich niemand auf die Reflexe der Savanne verlassen.

Zu oft bestimmen nackte Angst und archaische Reflexe das globale Handeln. Unter dem Eindruck der Terroranschläge vom 11. September entlud sich das volle Aggressionspotenzial der USA gegen den Irak, ein Land, dessen Beteiligung an den Anschlägen zweifelhaft ist.

Es geht nicht um schlichten Pazifismus, wenn man hinterfragt, wie viele Menschenleben, auch Amerikaner, letztlich mit dieser Strategie gerettet werden.

Emotionalisierte Gefahr

Wenn gleichzeitig die Waffengesetze im eigenen Land gelockert werden, wo sich viermal mehr Menschen gegenseitig erschießen wie 2001 in den Türmen des World Trade Center umkamen, geht es offensichtlich nicht nur darum, die Zahl der eigenen Todesopfer zu minimieren, sondern eine emotionalisierte Gefahr zu bekämpfen.

Eine Regierung, die derart irrational verfährt, riskiert objektiv, nicht das Beste für die Bevölkerung zu tun.

Die erschreckende Erkenntnis ist, dass Menschen, auch Staatschefs, sich auf höchst irrationale Weise selbst aussuchen, wovor sie Angst haben.

Anteil daran hat die moderne Zivilisation selbst, in der man sich einerseits wie von einem Kokon umhüllt in trügerischer Sicherheit wiegt, in der andererseits die Undurchschaubarkeit des modernen Alltags auch irreale Ängste befördert.

Wo jedoch subjektiv empfundene Gefahren um ein Vielfaches vom realistischen Risiko abweichen, droht unweigerlich Unglück. Werden Risiken unterschätzt, dann bricht die Katastrophe überraschend herein, so wie es an den Gestaden des Indischen Ozeans geschehen ist. Werden die Gefahren überschätzt, wird das Leben von unnötiger Sorge überschattet.

Acrylamid, BSE und Sars sind nur einige dieser überschätzten Gefahren der vergangenen Jahre. Insbesondere das Lungenvirus führte zu einer beispiellosen Massenpanik, an deren Folge der gesamte Wirtschaftsraum Asiens litt.

Sinkt jedoch der Wohlstand einer Region, leiden auch die Gesundheitssysteme. So gesehen hat die Angst vor Sars letztendlich mehr Menschen getötet als das Virus selbst. 800 Tote lautet die Bilanz der gesamten Sars-Epidemie. So viele Menschen sterben stündlich an Aids und Tbc. Von einem rationalen Umgang mit Risiken kann hier keine Rede sein.

Der wahre Zynismus

Es wirkt auf den ersten Blick lebensfern und zynisch, in diesem Zusammenhang mit statistischen Größen zu hantieren, etwa den Kosten pro gerettetem Lebensjahr. Andererseits legt diese Betrachtung den wahren Zynismus der Weltgemeinschaft zu Tage: Impfungen in der dritten Welt kosten weniger als einen Euro pro gewonnenem Lebensjahr.

Ein Tsunami-Warnsystem dürfte nicht weit davon entfernt liegen. Das ist ein Witz gegen die Beträge, mit denen der Westen seine zum Teil höchst fragwürdigen Sicherheitsvorkehrungen finanziert. Ein zum Scheitern verurteiltes Raketenabwehrschild zum Beispiel oder teure medizinische Vorsorgeprogramme, die praktisch kein Menschenleben retten.

Die Flutwelle im Indischen Ozean hat den einst unter dem Eindruck des Reaktorunfalls von Tschernobyl geprägten Begriff der "Risikogesellschaft" auf fatale Weise pervertiert.

Unselige Kritik

Der Soziologe Ulrich Beck formulierte seinerzeit das Lebensgefühl der Achtzigerjahre mit der Behauptung, nicht Ignoranz sei die Quelle der Gefahren, sondern Wissen. Diese unselige Kritik hat der Tsunami nun hoffentlich fortgespült.

Nicht weil menschliches Wissen und Technik unbeherrschbar wurden, sondern weil sie fehlten, ist unsagbares Leid entstanden. Bewusste, selbst gewählte Ignoranz wird den Menschen niemals aus dem Staub der Savanne heben.

Weil die Evolution mit dem technischen Fortschritt nicht Schritt halten konnte, ist auf die eigenen Sinne kein Verlass mehr. Es ist Zeit, den Gefahren des Globus mit Wissenschaft und Analyse zu begegnen, nicht mit Fatalismus und Reflexen. Der Mensch hat als einziges Lebewesen die Chance, die eigenen evolutionsbedingten Unzulänglichkeiten mit Verstand zu überwinden.

© SZ vom 08.01.05 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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