Internationales Polarjahr:Zehn Fragen an das Eis

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Zu Beginn des Internationalen Polarjahrs: Welche Rätsel in Arktis und Antarktis auf die Forschung warten.

Axel Bojanowski

Wissenschaftler aus 60 Nationen starten heute eines der größten Wissenschaftsprojekte aller Zeiten. Das Internationale Polarjahr markiert den Beginn von 120 Programmen zur Erforschung von Nord- und Südpol.

Ein Eisbär auf einer Eisscholle in Grönland. Die größten Bären der Welt jagen auf dem Packeis der Arktis. (Foto: Foto: AP)

Die Eispanzer Grönlands und der Antarktis spielen eine zentrale Rolle im Zuge des globalen Klimawandels. Und auch unter dem Eis und in den Polarmeeren entdecken Forscher eine rätselhafte Welt.

1) Ist das Nordpolarmeer bald eisfrei? Nirgendwo zeigen sich die Auswirkungen der Erderwärmung so dramatisch wie in der Arktis. Seit 1978 hat das Packeis im Sommer ein Fünftel seiner Fläche eingebüßt. Im Dezember prognostizierten Klimaforscher, die Arktis könnte ab 2040 im Spätsommer komplett eisfrei sein. Forscher des Alfred-Wegener-Instituts für Polar- und Meeresforschung (AWI) wollen diese Computerprognosen jedoch überprüfen.

Grundlegende Fragen sind offen, etwa die, warum so viel Eis geschmolzen ist: Die Erwärmung der Luft erklärt nur einen Teil des Schwundes. Zudem wollen die Wissenschaftler nun herausfinden, ob das Meereis dünner geworden ist. Denn nur die Kenntnis der Eisdicke erlaubt es, die Menge des geschmolzenen Eises zu bestimmen. Die Arktis-Forschung gleicht einem Wettlauf gegen die Zeit, denn das Meereis beschleunigt offenbar seinen Rückgang.

2) Schmilzt Grönland? Es ist eine Schlüsselfrage der Klimaforschung: Wird die Erderwärmung Grönlands Eismassen dezimieren, was den Anstieg der Meeresspiegel deutlich beschleunigen würde? Derzeit trägt die Gletscherschmelze Grönlands lediglich 0,2 Millimeter pro Jahr zum Meeresspiegelanstieg bei. Wie sensibel der Eisschild Grönlands ist, wollen Polarforscher nun mit einer Bohrung in den Eispanzer untersuchen. In dem erbohrten Eiszylinder wollen sie die Umweltbedingungen vergangener Epochen ablesen.

Bisherige Bohrungen reichten nur 125 000 Jahre in die Vergangenheit. Damals scheint Grönland drei bis fünf Grad wärmer als heute gewesen zu sein. Computerrechnungen zeigen gleichwohl, dass die Gletscherschmelze seinerzeit den Meeresspiegel um vier Meter über den heutigen Pegel gehoben haben könnte. Bestätigen die neuen Bohrungen die Ergebnisse, sei das ein Alarmsignal, fürchten Experten: Dann droht in den kommenden Jahrhunderten ein ähnlicher Anstieg der Meere.

3) Taut der Eispanzer am Südpol? Immer wieder haben Forscher versucht, die Antarktis zu durchqueren. Viele mussten umkehren, manche sind erfroren. Heute erleichtern Flugzeuge die Passage. Doch in wissenschaftlicher Hinsicht ist der weiße Kontinent, in dem drei Viertel des irdischen Süßwassers gespeichert sind, undurchdringlich wie eh und je.

Sogar Satellitendaten widersprechen sich: Radarmessungen zeigen, dass das bis zu 4,5 Kilometer dicke Eis der Antarktis zunimmt, Analysen der Erdanziehungskraft hingegen deuten auf einen Schwund hin. Andere Daten legen den Schluss nahe, das Eis im Osten sei dicker, das im Westen dünner geworden. Manche Klimaforscher vermuten gar, dass der antarktische Eispanzer infolge der Erderwärmung anschwellen, den Anstieg der Meere also bremsen könnte.

In einer wärmeren Welt verdunstet mehr Wasser, das am Südpol als Schnee falle, kalkulieren die Experten. Womöglich erweist sich aber auch diese These über die Antarktis als falsch - wie so viele zuvor.

4) Gibt es eine klimatische Verbindung zwischen den Polen? Das Klima von Nord- und Südpol schwingt während der Eiszeiten offenbar im Gleichtakt. Wird es im Norden wärmer, kühlt der Süden ab - und umgekehrt. Das ergab die Auswertung von Eisbohrkernen aus Grönland und der Antarktis, die Polarforscher im vergangenen Jahr vorstellten.

Vermutet werden Meeresströmungen als Ursache der so genannten bipolaren Klimaschaukel: Der Golfstrom führt warmes Wasser aus den Tropen nach Norden. Dadurch kühlen sich südliche Gefilde ab. Alle 1500 Jahre aber schwächelt der Golfstrom offenbar, und warmes Wasser staut sich im Süden, der Norden kühlt ab.

5) Was lässt Frostblumen blühen? Auf dem Meereis glitzern Gewächse von außerordentlicher Schönheit. Filigrane Eisblättchen wachsen zu so genannten Frostblumen empor. Ihre Anmut täuscht leicht darüber hinweg, dass die Frostblumen Substanzen in der Luft angreifen. In den Eisgebilden reichern sich Salze des Meerwassers an. Entweichen so genannte Bromide aus den Eiskristallen, attackieren sie das Ozon in der Luft.

Satelliten-Aufnahmen zeigen einerseits, dass sich in der Luft Bromide sammeln, sofern in der Gegend Frostblumen gewachsen sind. Zum anderen verschwindet in den gleichen Regionen jedes Frühjahr das bodennahe Ozon. Offenbar treibt das im Frühling einsetzende Sonnenlicht die Ozonvernichtung an, sagen Experten. Ob die Frostblumen weitere Substanzen freisetzen, soll nun geklärt werden.

6) Wie viele Lebewesen gibt es im Eis? Das hatten Ulrich Bathmann und seine Forscherkollegen vom AWI nicht erwartet. Normalerweise fahren Lebewesen ihren Stoffwechsel im Winter herunter. Doch in antarktischen Gewässern ist das Gesetz offenbar auf den Kopf gestellt. Dort fanden die Biologen soeben jede Menge Jungtiere von Zooplankton. Die Fortpflanzungsaktivität der Kleinstlebewesen, die zu Abermillionen die antarktischen Gewässer bevölkern, scheint ausgerechnet im Winter am höchsten zu sein.

Unter dem Packeis der Antarktis nisten gewaltige Mengen Kleinkrebse und Plankton, am Meeresboden der Region wimmelt es von Leben wie in tropischen Korallenriffen. Neben einer Vielzahl von Fischen bevölkern Robben, Wale und Tintenfische das Südpolarmeer. Mit Tauchbooten, Kameras, Mikrophonen und Wärmesuchgeräten wollen Forscher dem Geheimnis des Lebens der Polarregionen nun auf die Spur kommen.

7) Welche Geheimnisse stecken in Seen unter dem Eis? Unter dem Eispanzer der Antarktis verbirgt sich eine gewaltige Seenlandschaft. Wie Forscher soeben erst bestätigten, sind viele der Gewässer unter dem Eis miteinander verknüpft. In ihnen hat sich möglicherweise eine urzeitliche Umwelt erhalten.

Hochinteressante Fragen stellen sich: Gibt es Lebensräume unter dem Eis? Wie ernähren sich die Organismen? Sind sie mit bekannten Lebensformen verwandt, oder gehören sie zu Arten, die längst ausgestorben zu sein schienen? Haben die Formen gar eine eigene Evolution wie auf einem anderen Planeten hinter sich?

Die Seen gehören zu den letzten Refugien der Erde, die nicht vom Menschen verändert wurden. Entsprechend skeptisch werden Pläne aufgenommen, die Seen anzubohren um ihr Geheimnis zu lüften.

8) Welche Bedeutung haben Eisberge? Hochhausgroße Eisklötze treiben zu Tausenden in den Polarmeeren. Die Wege der Eisberge lassen sich nicht vorhersagen, sie sind daher eine Gefahr für die Schifffahrt.

Die Drift der weißen Trümmer ist aber auch von wissenschaftlichem Interesse. Eisberge können die Zirkulation der Ozeane beeinflussen, indem sich ihr Schmelzwasser wie ein Deckel auf das Meerwasser legt. In antarktischen Gewässern, wo üblicherweise Meerwasser in die Tiefe stürzt und somit die weltumspannenden Meeresströmungen antreibt, könnte das gefährlich werden: Sollten sich irgendwo Eisberge ansammeln, könnte ihr Schmelzwasser das übliche Abtauchen des Oberflächenwassers stoppen, und die Pumpe der Meeresströmungen wäre unterbrochen. Um festzustellen, wohin Eisberge driften, installieren Forscher Funksender und verfolgen die Eisberge.

9) Seit wann gibt es die Eiskappen der Erde? Das Auseinanderbrechen des Urkontinents Gondwana habe die bis heute anhaltende Kaltzeit eingeleitet, sagt das Lehrbuch: Ein Bruchstück - die Antarktis - blieb am Südpol zurück.

Eine kühle Meeresströmung umkreist sie seither und blockiert den Zustrom warmen Wassers nach Süden. Der Pol kühlte ab, Gletscher bildeten sich, und das Eis strahlte so viel Wärme zurück ins All, dass auch der Norden abkühlte.

Daten aus einer Tiefseebohrung stellten diese Theorie allerdings vergangenes Jahr in Frage. Demnach gab es offenes Meer zwischen der Antarktis und Südamerika bereits vor 41 Millionen Jahren.

Experten favorisieren nun einen anderen Auslöser für den urzeitlichen Klimawandel: Große Mengen des Treibhausgases Kohlendioxid seien aus der Luft entwichen, die darum die wärmende Sonnenstrahlung nicht mehr binden konnte. Eine Ursache für den Gasschwund ist allerdings nicht erkennbar - weshalb weiter geforscht werden muss.

10) Warum gibt es in der Antarktis eisfreie Täler mit reichlich Leben? Mitten im Eispanzer der Antarktis klaffen Löcher. Die so genannten Trockentäler sind seit Jahrmillionen eisfrei. Gebirge blockieren den Zustrom der Gletscher, Fallwinde tauen jede Schneeflocke. Auf den ersten Blick erscheinen die Täler karg und unwirtlich.

Doch trotz der extremen Kälte gedeihen in Gesteinsporen und Seen Mikroben, Flechten, Fadenwürmer und Algen. Das gibt Wissenschaftlern eine Vorstellung davon, wie das Leben auf der Erde oder auf anderen Planeten begonnen haben könnte. Vermutlich nutzen die Mikroorganismen winzige Spuren von Feuchtigkeit.

Wind treibt Staub auf die mit meterdicken Eisplatten bedeckten Seen. Das Sediment sinkt allmählich durchs Eis und versorgt Lebewesen im Wasser. Dennoch bleibt rätselhaft, wie sich diese Oasen seit Urzeiten erhalten.

© SZ vom 1.3.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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