Hirnforschung:Ich denke, also fahre ich

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Mailänder Forscher entwickeln einen Rollstuhl, der auf Gehirnströme reagiert. In ein, zwei Jahren sollen die ersten Versuche mit Patienten stattfinden.

Henning Klüver

In der Vergangenheit waren schwerbehinderte Menschen mit Muskelschwäche oder anderen neuromuskulären Krankheiten auf eine Hilfskraft angewiesen, wenn sie sich mit dem Rollstuhl bewegen wollten. Seit einigen Jahren aber hat sich die Technik von computergesteuerten Rollstühlen erheblich verbessert. Bereits 1999 wurde an der Universität Bremen ein Krankengefährt ("Rolland") entwickelt, das auf Knopfdruck den Weg zu einem vorprogrammierten Ziel findet.

Der "Lurch" wurde benannt nach dem Butler der Addams-Family. (Foto: Foto: AIRlab)

Es ortet wie ein Roboter mit Sensoren Hindernisse und kann ihnen ausweichen. Inzwischen gibt es weltweit erfolgreiche Versuche mit Steuerungssystemen für Patienten, die mit dem Kinn eine Art Joystick führen oder mit Lippen, Augenlidern und sogar mit Stirnmuskeln Schalter bedienen können. Am Georgia Institute of Technology in Atlanta (USA) hat man im vergangenen Jahr einen Rollstuhl erprobt, der über Magnetsensoren mit der Zunge lenkbar ist.

Italienische Entwickler möchten jetzt noch einen Schritt weiter gehen. In Mailand wurde der Prototyp eines Rollstuhls vorgestellt, der mit Gehirnströmen, also gleichsam mit Gedanken steuerbar ist. Am Polytechnikum der lombardischen Metropole hat ein Team unter Leitung des Informatikers Matteo Matteucci in der Abteilung für künstliche Intelligenz und Robotertechnik nach dreijähriger Forschung den elektrisch getriebenen und computergesteuerten Rollstuhl "Lurch" (so wurde der Butler der Addams-Family genannt) entwickelt, der mit einer Verbindung zwischen Gehirn und Computer arbeitet.

Geringe Fehlerquote

Eine Elektrodenhaube mit knapp zwei Dutzend Sensoren, die der Rollstuhlinsasse auf dem Kopf trägt, überträgt elektrische Signale des Gehirns an einen Computer. Der Insasse sieht auf einem Bildschirm mögliche Ziele (wie Bad, Küche, Schlafzimmer) aufleuchten, für die im Computer die Fahrwege programmiert sind. Indem der Nutzer sich auf eines der Ziele konzentriert, erzeugt das Gehirn Signale, die der Computer interpretieren kann. Die Fehlerquote lag bei den Versuchen der Mailänder nur bei zehn Prozent.

Über eine Kamera, die Zeichen auf der Wohnungsdecke abtastet, "weiß" der Stuhl stets, wo er sich befindet. Laserstrahlen sehen mögliche Hindernisse und lösen Ausweichmanöver aus. Matteo Matteucci hofft, in ein, zwei Jahren "Lurch" so weit entwickelt zu haben, dass damit Patientenversuche gemacht werden können. Als weiteren Schritt möchte das Mailänder Team am Rollstuhl einen Roboter-Arm anbringen, der ebenfalls über Gedanken gesteuert werden soll. Die Marktreife, so Matteucci, werde aber nach dem jetzigen Stand der Entwicklung noch etwa zehn Jahre brauchen.

Mit Hirn-Computer-Schnittstellen wird weltweit experimentiert. In den USA gibt es erfolgversprechende Versuche mit in Affenhirne implantierten Elektroden. In Europa, etwa an der TU-Berlin, zieht man wie in Mailand wegen des komplizierten medizinischen Eingriffs bei Implantationen eine nichtinvasive Technik mit außen auf dem Kopf angebrachten Sensoren vor. Aber auch in Berlin vermuten Informatiker wie Klaus-Robert Müller, dass es noch Jahrzehnte dauere, bis eine alltagstaugliche, nicht-invasive Gedankensteuerung zum Beispiel von Roboterarmen existiere.

Der Tübinger Neurobiologe Niels Birbaumer hinterfragt sogar den praktischen Nutzen der Mailänder Forschung: "Wo sind die Kranken, die in diesen Rollstühlen sitzen sollen?" Solange sie noch die Augen- oder Mundmuskulatur bewegen können, so Birbaumer, seien Steuerungen über Schalter effektiver als die Nutzung von Gehirnwellen.

© SZ vom 05.03.2009/mcs - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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