Hirnforschung:Betagte Köpfe denken mehr

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Wenn älterere Menschen wieder mal nicht das richtige Wort finden, ist dies vor allem ein Zeichen dafür, dass sie mehr Informationen aufnehmen und verarbeiten.

Christina Berndt

Die Sache mit dem "dings" wächst mit der Lebenserfahrung. Immer wenn sich das Gedächtnis verweigert, muss das Wörtchen herhalten, und so häufen sich Sätze wie dieser im Lauf des Lebens: "Der Herr ... äh ... dings ... äh ... sag schon" Das Gestammel ist nicht nur lästig, es versetzt dem, der verzweifelt nach dem richtigen Wort sucht, auch jedes Mal einen Stich. Das Alter, so scheint es, und mit ihm die Vergesslichkeit, bahnt sich unaufhaltsam seinen Weg.

Ältere nehme mehr Daten auf und können sie flexibel anwenden. (Foto: Foto: ddp)

Doch die Selbstzweifel sind offenbar unnötig. Wenn sich erst in der öffentlichen Meinung durchgesetzt hat, wovon Wissenschaftler zunehmend überzeugt sind, dann können reifere Menschen auf ihr "dings" künftig sogar stolz sein. Denn dass sich Ältere nicht gleich an den Namen eines Filmstars, die PIN ihrer EC-Karte oder den ersten Posten ihres Einkaufszettels erinnern, ist keineswegs ein Zeichen für die Trägheit ihrer Hirnwindungen. Die Oberstübchen betagter Menschen arbeiten oft sogar besser als die jüngerer Leute. Ältere Gehirne scheinen tatsächlich weisere Gehirne zu sein.

"Sie nehmen mehr Daten auf und sieben aus dem Wirrwarr die relevanten Informationen aus", sagt die Psychologin Shelley Carson von der Harvard-Universität. Eine Folge sei zwar das störende Dings-Gestammel. "Aber die Älteren ziehen aus ihrer anderen Informationsverarbeitung zugleich großen Nutzen." Wer viel aufnimmt, ist nun einmal kreativer, auch wenn er mitunter - wie der sprichwörtlich gewordene zerstreute Professor - etwas wirr erscheint.

Zweifelsohne ist Vergesslichkeit im Alter für viele Menschen ein trauriger Fakt: So leiden drei Prozent aller 70-Jährigen und sogar 20 Prozent aller 80-Jährigen an der Alzheimer-Krankheit. Für die allermeisten Alten aber gilt: Der Fokus ihrer Aufmerksamkeit ist größer als noch in jungen Jahren. Das macht es schwerer, sich auf Details zu konzentrieren. Auch wenn ein Gehirn, das sich schneller ablenken lässt, zunächst wenig erstrebenswert erscheint: Die Verfügbarkeit von Informationen wird dadurch größer.

Seit einigen Jahren bewegt Hirnforscher - auch jüngere - die These vom guten alten Gehirn. Zahlreiche Studien haben diese These seither belegt. Nun gilt sie als so weit etabliert, dass die Bibel der Neurowissenschaften, "Progress in Brain Research", dem Thema ein eigenes Kapitel gewidmet hat.

Dass Ältere den Jüngeren häufig sogar überlegen sind, haben bereits mehrere Versuche gezeigt. In einem von ihnen sollten Probanden einen Text lesen, der von überraschenden Sätzen durchzogen war. Das hat die graue Masse der über 60-jährigen Leser schwer beschäftigt. Sie lasen die Texte erheblich langsamer als Studenten. Doch die älteren Herrschaften sind nicht einfach über die merkwürdigen Passagen gestolpert. Sie haben sie verarbeitet. Fragen zu diesen Textstellen konnten sie viel besser beantworten als die jungen Leute, die das Unerwartete einfach ausgeblendet hatten.

"Die Älteren sind damit die besseren Problemlöser", sagt Lynn Hasher von der Universität Toronto. "Sie können die Information, die sie in einer Situation aufgesaugt haben, auf eine andere anwenden." Das sei im wirklichen Leben bedeutsam - schließlich sei nicht immer gleich klar, welche Informationen wichtig sind oder eines Tages wichtig sein werden. "Es ist ja nicht umsonst so, dass wir alte Menschen für weise halten", so die Psychologie-Professorin, die selbst kurz vor der Rente steht. "Dabei spielt ihre andere Art der Wahrnehmung gewiss eine bedeutende Rolle."

© SZ vom 24.5.2008 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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