Hexenprozesse im 18. Jahrhundert:Von den Mäuselmachern und ihrem Pakt mit dem Bösen

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Die Bettelkinder von Freising: Der Historiker Rainer Beck rekonstruiert in seinem neuen Buch einen der letzten großen Hexenprozesse im Deutschen Reich. Es ist der gelungene Versuch, Vorgänge verständlich aufzuarbeiten, die uns heute unglaublich erscheinen.

Steffen Martus

Am Anfang war ein Gerücht. Im Bischofssitz Freising kursierten im Spätherbst des Jahres 1715 Geschichten von Bettelknaben, die vor den Toren der Stadt Mäuse herbeigezaubert haben sollen. Es handelte sich um eine bekannte Praktik. Gelehrte schrieben darüber, Theologen warnten davor, Hexer und Hexen kamen dieser Tätigkeit wegen auf den Scheiterhaufen. Die Freisinger Kriminalbehörden interessierten sich für den Fall.

Erst ging es im Freisinger Hexenprozess um Mäuse und anderes Getier, dann um die Begegnung mit allerlei dämonischen Wechselgestalten, um Hexentänze, um Unzucht mit dem Teufel und schließlich um den Pakt mit dem "Bösen Feind". (Foto: oH)

Vermutlich wollte man zunächst die wilden Bettler, die die geordnete Armenfürsorge störten, mit einigen Rutenschlägen abstrafen. Dann aber entwickelte das Verfahren eine eigene Dynamik und führte zu einem der letzten großen Hexenprozesse im Deutschen Reich. Mäuse und anderes Getier spielten bald keine große Rolle mehr. Stattdessen ging es um die Begegnung mit allerlei dämonischen Wechselgestalten, um Hexentänze, um Unzucht mit dem Teufel und schließlich um den Pakt mit dem "Bösen Feind".

Am Ende der ersten Phase des Hexenprozesses wurden 1717 drei Kinder im Alter zwischen zwölf und 14 Jahren öffentlich hingerichtet, eines hatte sich in seiner Zelle das Leben genommen, eines war im Gefängnis jämmerlich verendet, zwei weitere wurden ihren Familien entrissen und in die Obhut von Pflegeeltern gegeben.

Als die Kinder sich nicht ausreichend brav verhielten, wurde 1721 ein neuer Prozess angestrengt, der bis 1723 weiteren zehn Kindern das Leben kostete, aber letztlich mit einem Desaster für die Inquisitoren endete: Der Konsens der unterschiedlichen Behörden zerbröckelte; die Beklagten zeigten sich zunehmend widerborstig und verweigerten Geständnisse; die höheren Instanzen bemerkten - womöglich aufgrund einer veränderten öffentlichen Stimmung - Verfahrensmängel und erklärten das Kindergerede für das, was es offenkundig war: für unglaubwürdig.

Der Konstanzer Historiker Rainer Beck hat sich als erster durch das gesamte Aktenmaterial gegraben und das Soziogramm und mentale Profil einer Gesellschaft am Rande der Aufklärung erstellt. Die Intensität der Verfolgung erklärt sich vor allem daraus, dass man sich einem ganzen Netzwerk auf der Spur glaubte. Der Verdacht richtete sich zunehmend auf meist mittellose Kinder, die sich der Kontrolle entzogen und offenkundig Sympathisanten in der Stadt hatten. Auf einer Liste fanden sich die Namen von immerhin 132 Verdächtigen. Sollte es nicht zu einer epidemischen Ansteckung durch das Gesindel kommen, so die Überzeugung, musste man mit den Verdächtigen hart ins Gericht gehen.

Dabei konstruierten die Ermittler nach und nach aus zufälligen Begegnungen von Kindern eine verschworene Gemeinschaft von bösen Seelen und um diese herum eine immer buntere, konkretere und detailliertere "diabolische Wirklichkeit". Zwischen dem Kleingetier, das herbeigezaubert wurde, lugte immer deutlicher etwas Schwarzes hervor, ausgestattet mit Hörnern, feurigen Augen und einem Geißbart. Im Großen und Ganzen verliefen die beiden Hexenprozesse so schrecklich paranoid und dumm, wie man es sich nur vorstellen kann.

Aber unter dieser Oberfläche von geistig-geistlicher Beschränkung, die schon lange von zeitgenössischen Kritikern prinzipiell denunziert worden war, verbarg sich ein Gestrüpp einander widerstreitender Meinungen und eigentümlicher Koalitionen. Geklärt werden musste eine Reihe von ordnungspolitisch zentralen Fragen:

Waren die Kinder Opfer von Dämonen oder standen sie mit ihnen im Bund? Wer gehörte dazu? Konnte man einige durch harte Erziehungsarbeit vor dem Schlimmsten bewahren? Zudem sollte die Abrechnung so organisiert werden, dass sie im öffentlichen Strafzeremoniell das Maß und die Art des Vergehens vor Augen führte. Zur Wahl standen Erdrosselung, Enthauptung oder der Tod auf dem Scheiterhaufen. Man konnte den Verurteilten erst enthaupten und dann verbrennen oder auf das Feuer auch ganz verzichten.

Als humane Variante galt es, ihm die Adern zu öffnen und ihn verbluten zu lassen. Beck untersucht minutiös die kommunikative Aushandlung von Schuld und Unschuld, das Rauschen der Verhöre, die Umwege und Nebensächlichkeiten. Dabei zeigt sich nicht nur die eigentümliche Unbekümmertheit, mit der die Kinder von Zaubereien berichteten, oder der Irrsinn der Inquisition, aus deren Fängen es ab einem bestimmten Punkt aus eigener Kraft kein Entrinnen mehr gab. Schlimmer noch: Man wird Zeuge, wie Ankläger und Angeklagte sich ganz allmählich in einem seltsam tastenden, bisweilen fast behutsamen Hin und Her arrangierten, das nicht umsonst Jahre in Anspruch nahm.

Die Kinder versuchten zu erspüren, was die Erwachsenen hören wollten, um sich deren Wohlwollen zu erkaufen, und verstrickten sich dadurch immer weiter in Anschuldigungen. Die Ankläger versuchten auf allen möglichen Wegen, die dämonischen Abgründe der Buben zu ergründen und ans Tageslicht zu bringen, sei es im freundlichen oder harten Verhör, durch Haftverschärfung, den Einsatz von geweihtem Wasser oder geweihten Kerzen, durch Rutenschläge oder andere Foltertechniken.

Dabei gab es geregelte Verfahren, und bei aller Asymmetrie der Macht stand auch für die Inquisitoren einiges auf dem Spiel. In letzter Konsequenz musste sich der Angeklagte dem frühneuzeitlichen Rechtsverständnis nach für schuldig erklären.

Aber dieses Einverständnis war selbst durch die miserablen Haftbedingungen sowie durch die Tortur nicht einfach erpressbar. Und selbst wenn es erpresst wurde, musste ein Geständnis nachweislich aus freien Stücken gemacht worden sein. Weil die Hinrichtungsstätte nicht als Tor zur Hölle, sondern als Wegscheide zwischen ewigem Heil und ewiger Verdammnis gedeutet wurde, hatte der Delinquent weit mehr zu verlieren als nur sein irdisches Leben, und der Inquisitor war immer auf der richtigen Seite. Die Marter eines Unschuldigen wog weniger als die versäumte Marter eines Schuldigen.

Worum also ging es in diesem Hexenprozess? Die kirchlichen Institutionen verteidigten vordergründig das Seelenheil ihrer Gemeinde gegen die Verführungskünste teuflischer Mächte. Aber das war nicht alles. In den quälend langen Verhören, in den irrlichternden Erzählungen und in der verschwenderisch freigesetzten inquisitorischen Energie wurde noch einmal eine "Weltsicht" aufgerufen, die im Zeitalter der Aufklärung ihre fraglose Gültigkeit verlieren sollte.

Der Teufel und sein Gefolge von Hexen und Hexern traten nicht nur als Gegner der Inquisitoren auf, sondern auch als deren Bündnispartner: Das diabolische Ensemble stand dafür ein, dass es einen so regen wie gefährlichen Austausch zwischen Diesseits und Jenseits gab. Dieser Verkehr musste gesichert und überwacht werden. Schlimmer als jeder Geisterfahrer wäre eine Straßensperrung gewesen.

Dass die Inquisitoren an einigen Stellen des Prozesses aus einer spielerisch-kindischen Blasphemie veritablen Atheismus machten, war riskant. Sie taten damit das, womit die kirchliche Orthodoxie um 1700 generell die Radikalisierung der Aufklärung vorantrieb: Sie provozierten durch mangelnden Sinn für Scherz, Satire und Ironie dazu, den Gedanken einer Welt ohne Gott auch einmal ernsthaft zu fassen.

Rainer Becks faszinierendes Exerzitium an den Quellen zeigt, wie die "Ketzermacher" die " Mäuselmacher " vernichteten, aber dabei den Überdruss an einer dogmatischen Weltsicht des Geisterverkehrs erzeugten, der die Vernichtung von Menschen einkalkuliert. Hinter dieser "Imagination des Bösen" lauert weniger der Teufel als vielmehr die List der Vernunft.

Rainer Beck: Mäuselmacher oder die Imagination des Bösen. Ein Hexenprozess 1715-1723. Verlag C. H. Beck, München 2011. 1008 Seiten, 49,95 EUR. ISBN-13: 9783406621871

© SZ vom 25.7.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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