Gesundheit:Watte im Kopf

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Niedriger Blutdruck kann das Denken einschränken und ist womöglich mehr als die belächelte "Deutsche Krankheit".

Katja Ebbecke

Deutschland unterscheidet sich von anderen Ländern - sogar in seinen Leiden: "German Disease", deutsche Krankheit, nennt man im Englischen spöttisch den zu niedrigen Blutdruck.

Doch während sich die Engländer über die besondere Empfindlichkeit der Deutschen lustig machen, haben zwei Psychologen Hinweise dafür gefunden, dass zu niedriger Blutdruck zu ernsten Einschränkungen führen kann. Rainer Schandry und Stefan Duschek von der Universität München stellten fest, dass bei Menschen mit niedrigem Blutdruck das Gehirn weniger durchblutet ist und somit schlechter arbeiten kann.

Mögliche Folge: Konzentrations- und Reaktionsschwierigkeiten, die zu Beeinträchtigungen in Schule, Beruf und beim Autofahren führen können. "Man muss sich das vorstellen wie bei einem Menschen mit normalem Blutdruck, der sehr schlecht geschlafen hat", sagt Stefan Duschek.

Bislang gilt niedriger Blutdruck als ungefährlich. Im Gegensatz dazu sind etwa 30 Prozent aller über 60-jährigen Deutschen wegen Bluthochdruck in Behandlung: Dieser erhöht das Risiko für Herzinfarkt und Schlaganfall. Bei niedrigem Blutdruck hingegen sinkt die Wahrscheinlichkeit von Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

Doch viele Betroffene leiden unter kalten Händen und Füßen, Müdigkeit und Depression, Appetitlosigkeit, Schwindel und Übelkeit. Nach Definition der Weltgesundheitsorganisation hat eine Frau zu niedrigen Blutdruck, wenn der obere Wert unter 100 Millimeter Quecksilbersäule liegt, bei Männern unter 110.

Rund drei Prozent der Deutschen seien betroffen, ermittelte das Robert-Koch-Institut 1998. Neuere Daten gibt es nicht - zu niedriger Blutdruck wird kaum erforscht. Ärztliche Behandlung bekommt meistens nur, wer unter Organschäden leidet.

Am häufigsten tritt Hypotonie, der Fachbegriff für niedrigen Blutdruck, jedoch ohne feststellbare organische Ursache bei jungen Leuten auf - besonders bei schlanken Frauen.

Schandry und Duschek ließen 40 Testpersonen mit Hypotonie - die meisten davon Frauen - und eine Kontrollgruppe Rechenaufgaben lösen, eine halbe Stunde lang Veränderungen auf einem Radarschirm beobachten und auf Reize reagieren.

Bei fast allen Aufgaben schnitten Teilnehmer mit niedrigem Blutdruck um 20 Prozent schlechter ab. Besonders deutlich wurde der Unterschied bei langwierigen Aufgaben wie der Radarschirm-Beobachtung.

"Hypotone können sich über längere Zeit schlechter konzentrieren", sagt Duschek. Die Aufgabe sei vergleichbar mit einer Nacht-Fahrt auf der Autobahn. "Da könnte eine solche Konzentrationsschwäche gefährlich sein."

Um den Grund für die schlechtere Leistung zu finden, maßen die Psychologen per Ultraschall die Geschwindigkeit des Blutes in zwei großen Gehirnarterien. Das Ergebnis: Bei Menschen mit niedrigem Blutdruck floss das Blut mit 58 Zentimetern pro Sekunde langsamer als bei denen mit normalem Blutdruck, deren Blut eine Geschwindigkeit von 68 Zentimetern pro Sekunde hatte.

Weniger Sauerstoff und Nährstoffe

Das Gehirn von Hypotonen bekommt also weniger Sauerstoff und Nährstoffe und kann deswegen nicht die volle Leistung erbringen.

Deutlicher zeigte sich der Unterschied bei mentaler Anstrengung: Während die Teilnehmer Aufgaben lösten, stieg die Geschwindigkeit des Blutstroms bei allen an - bei Probanden mit normalem Blutdruck allerdings mit drei Prozent fast doppelt so stark wie bei Hypotonen (1,8 Prozent).

"Der niedrige Blutdruck ist offenbar für einen geringeren Blutfluss im Hirn und damit für die Leistungsschwäche verantwortlich", sagt Duschek.

Martin Middeke, Facharzt für Innere Medizin am Blutdruckinstitut München, ist beeindruckt: "Nun kann niemand mehr sagen, niedriger Blutdruck sei kein Problem." Die Schlussfolgerung der Psychologen, niedriger Blutdruck bedinge die Unterversorgung des Gehirns, teilen andere Experten jedoch nicht.

"Das ist zu kurz gedacht", sagt der Psychologe Thomas Elbert von der Universität Konstanz. Der Blutdruck hänge von vielen Einflüssen ab, er sei eher Symptom eines verstellten Regelsystems im Körper als dessen Ursache.

Würden weitere Untersuchungen die Verbindung jedoch beweisen, dann plädiert Harald Rau, Blutdruckexperte aus Bielefeld, für eine Neubewertung der Beschwerden: "Dann sollte Hypotonie in Deutschland auch als Krankheit wahrgenommen werden." Denn trotz englischem Spott - als Krankheit galt zu niedriger Blutdruck auch unter deutschen Ärzten bislang nicht.

Über die Risiken gibt es deshalb kaum Forschungsergebnisse. So fanden britische Wissenschaftler um Philip Steer heraus, dass nicht nur hoher Blutdruck das Risiko für Fehl- und Frühgeburten sowie die Säuglingssterblichkeit erhöht, sondern auch zu niedriger. Eine Studie bei Senioren wies zudem einen Zusammenhang zwischen niedrigem Blutdruck und demenziellen Erkrankungen auf.

Medizinische Lehrbücher empfehlen bei niedrigem Blutdruck viel zu trinken, Ausdauersport zu treiben und Bürstenmassagen zum Herzen hin. Wer starke Symptome hat, sollte zum Arzt gehen. "Hypotonie ist nicht weit verbreitet. Dennoch ist das Thema wichtig und wird in der Diskussion über Bluthochdruck eindeutig zu wenig beachtet", sagt Kristof Graf vom Herzzentrum Berlin.

Schandry und Duschek arbeiten derweil daran, die mentalen Fähigkeiten von Hypotonen durch Blutdruck erhöhende Medikamente zu steigern. "Das ganze Projekt steckt noch in den Kinderschuhen, aber erste Ergebnisse stimmen positiv: Mit erhöhtem Blutdruck verbessert sich auch die Leistung", verrät Stefan Duschek.

© SZ vom 24.2.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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