Fortschritts-Skepsis:Was bleibt, ist ein mitleidiges Lächeln

Symbol für die Hybris des Menschen: Angetrieben von 60.000 PS und der Selbstgewissheit der Konstrukteure wurde die Titanic vor 100 Jahren in den Abgrund gerissen. Mit ihr ging auch der ungebrochene Glaube der Menschheit an den Fortschritt unter. Die westlichen Industrieländer haben sich längst aus der Schneller-Höher-Weiter-Konkurrenz veabschiedet, allenfalls die phallokratischen Ambitionen einiger Schwellenländer erinnern an den siegesgewissen Taumel der Titanic-Erbauer.

Werner Bartens

In einer Berliner Confiserie steht eine zweieinhalb Meter lange Nachbildung der Titanic - komplett aus Schokolade. Das "Titanic"-Epos von 1997 hat 1,9 Milliarden Dollar eingespielt - nach "Avatar" der bis heute erfolgreichste Film. Jedes Kind kennt die beeindruckende Silhouette des wohl berühmtesten Schiffs seit Noahs Arche mit seinen vier imposanten Schornsteinen, die von schnittiger Fahrt nach hinten geneigt zu sein scheinen. Untergang, Wrack, Mythos des Schiffs, das vor 100 Jahren am 14. April um 23.40 Uhr mit einem Eisberg kollidierte und zwei Stunden, 40 Minuten später im Nordatlantik versank, faszinieren noch immer. Schließlich verkörpert keine technische Schöpfung Schönheit und Scheitern auf so grandiose Weise.

Benannt nach einem mächtigen Göttergeschlecht, vereinigte die RMS Titanic etliche Superlative ihrer Zeit - als das sicherste, luxuriöseste, größte und dennoch eleganteste Schiff, das trotz aller Rekorde als "praktisch unsinkbar" galt, wie die Erbauer prahlten. Als das Traumschiff in den Abgrund gerissen wurde und sich in 3800 Metern Tiefe in den Meeresboden bohrte, statt triumphal in New York einzulaufen, wurde auch der Untergang zum monströsen Ereignis.

Zum Mythos wurde die erste und letzte Reise der Titanic aber nicht nur, weil 1500 der 2200 Passagiere den Tod im eisigen Atlantik fanden (die genaue Zahl der Opfer ist umstritten). Es gab zivile wie militärische Schiffskatastrophen, bei denen mehr Tote zu beklagen waren. Die Titanic mit ihren technischen Exzessen, mit Prominenten und Milliardären an Bord, die einen bisher ungeahnten Reisekomfort genießen konnten, wurde zum Symbol für die Hybris des Menschen, weil sie nicht nur von damals unfassbaren 60.000 PS angetrieben wurde, sondern auch von der Selbstgewissheit der Konstrukteure und dem Fortschrittsglauben einer ganzen Generation. Stolz und ungebrochenes Vertrauen in die moderne Technik erzeugten eine Fallhöhe, die spätere technische Meisterleistungen nie mehr erreichten - weswegen die Tragödie um die Titanic immer noch mehr Menschen berührt als ungleich folgenreichere Katastrophen wie in Tschernobyl.

Rekordbauten im Erdbebengebiet

Der Mensch hat nach dem Untergang der Titanic zwar immer wieder Anstrengungen unternommen, seine Unfehlbarkeit gegenüber der Natur unter Beweis zu stellen. Der unplattbare Reifen und das bügelfreie Hemd gehören zu den ebenso bescheidenen wie vergeblichen Versuchen, den Launen des Alltags ein Schnippchen zu schlagen. Allenfalls die phallokratischen Ambitionen einiger Schwellenländer, in geologisch aktiven Gebieten der Erde das höchste Gebäude der Welt zu errichten (die Antenne zählt aber mit!), erinnern an den siegesgewissen Taumel der Titanic-Erbauer und ihr Schneller-Höher-Weiter. Die westlichen Industrieländer haben sich längst aus dieser Konkurrenz verabschiedet - und betrachten das Treiben wie Erwachsene den Wettlauf von Kindern um den größten Turm aus Bauklötzen.

Für das Manhattan-Project zum Bau der Atombombe wie für das Apollo-Programm mit dem Ziel Mondlandung wurden zwar ungleich größere Summen und mehr Techniker rekrutiert als für die Titanic. Doch sogar bei diesen Prestige-Projekten der US-Regierung galt es trotz aller Anstrengungen als ungewiss, ob die Bombe funktionieren würde - beziehungsweise ob der Wettlauf um den Weg ins All gewonnen werden konnte oder die Raketen schon beim Start krepierten.

Die Gefahr des Scheiterns ist allgegenwärtig

Spätere technische Meisterleistungen wurden nie mehr mit so viel Vorschusslorbeeren bedacht. Kein Flugzeug, kein Zeppelin und erst recht kein Raketenstart galt als absolut sicher. Bei Mondflügen und Raumfähren wussten Astronauten wie Behörden, dass die Gefahr des Scheiterns immer mitflog. Die Katastrophen von Challenger und Columbia stehen daher nicht in einer Reihe mit dem Untergang der Titanic - niemand hatte vor den Unglücksflügen behauptet, es könne nichts passieren.

The Dubai skyline with Burj Khalifa is seen during the late afternoon from the Sheikh Zayed highway

Der Burj Khalifa in Dubai ist das derzeit höchste Gebäude der Welt. Lediglich der Ehrgeiz mancher Schwellenländer, noch höher zu bauen, erinnert an die Euphorie der Titanic-Erbauer.

(Foto: REUTERS)

Rekordverdächtige Weltumrundungen per Ballon oder mit dem Leichtflugzeug gelten wie auch der jüngste Tauchgang von "Titanic"-Regisseur James Cameron in den Marianen-Graben eher als Willensleistung und Hobby wohlhabender Exzentriker und nicht als Fortschritt für Forschung oder Technik. Stolz oder Bewunderung halten sich in Grenzen. Manchmal rufen solche Anstrengungen in ihrer Retro-Ästhetik sogar mitleidiges Lächeln hervor, etwa wenn Abenteurer mit einem Floß den Ozean überqueren oder rückwärts auf dem Leichtbau-Fahrrad Dutzende Kilometer zurücklegen und dabei Geige spielen.

Gigantomanie als Nachteil

Die 40 Jahre alte Analyse über die "Grenzen des Wachstums", die sich ursprünglich auf die Weltwirtschaft bezog, ist längst in Forschung und Technik angekommen. Kernenergie wie Gen- und Klontechnik wurden von Beginn an kritisch begleitet. Zwar gab es auch hier euphorische Versprechen, die Energieversorgung für alle Zeiten zu sichern und den neuen Menschen zu schaffen. Aber das Bedrohungspotential war und ist ungleich größer, sodass der Gestus der skeptischen Ablehnung, den Kern des Atoms wie auch den der Zelle manipulieren zu wollen, Teil der politischen Kulturgeschichte der Bundesrepublik wurde. Zwar gab es etliche Versuche, in wissenschaftlichen Großprojekten die Forschung voranzubringen, doch hier standen weniger Größenwahn und Rekordsucht Pate, sondern eher die Notwendigkeit, eine verästelte Struktur der Teilprojekte und Sonderforschungsbereiche in einem großen Ganzen zu bündeln.

Die wohl prominentesten Beispiele für "Big Science", die Entschlüsselung des Genoms und die Teilchenbeschleuniger des Cern bei Genf, zeigen zudem, dass Größe in Technik und Wissenschaft nicht immer der effektivste Weg zum Erfolg ist. Kleine und mittlere Forschungsgruppen arbeiten oft wirkungsvoller. Das internationale Konsortium zur Entzifferung des Erbguts agierte so schwerfällig, dass es von einem später gegründeten Privatunternehmen mit schlankem Fuß überholt wurde. Und im Cern wurden zwar Physiker-Karrieren beschleunigt. Ansonsten fällt das Forschungszentrum mit seinen mehr als 3000 Mitarbeitern und 10.000 Gastwissenschaftlern, die an Cern-Experimenten beteiligt sind, vor allem durch Zwangsabschaltungen und Terminverzögerungen auf, die es fraglich erscheinen lassen, ob die Teilchen jemals voll auf Touren kommen.

Ein Größer-Schneller-Höher in Verkehrswesen, Architektur und Technik wird inzwischen immer von einem "Warum?" begleitet - dies gilt für Bahnhöfe, Flughäfen, Ausbaustrecken. Und die Schifffahrt selbst ist längst nicht mehr Symbol des mondänen Reisens, wie es zu Zeiten der Titanic der Fall war. Kreuzfahrten sind allenfalls ein Abklatsch der ehedem so vornehmen Schiffspassagen. Auf dem Wasser ist höchstens die Yacht noch ein Symbol für Luxus und Megalomanie. Doch auch hier wird schiere Größe - wie in Forschung und Technik - oft zum Nachteil. Ist das Boot zu lang oder zu breit, kann es in wirklich reizvollen Buchten und Häfen nicht mehr ankern.

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